Mörikes Schlüsselbein
aber zu müde war:
Aus einem Fenster in der ersten Etage eines Innenstadthauses hängte ein Türke einen Läufer und begann ihn in weitschweifigen Bewegungen auszuschütteln.
Aus dem Fenster in der zweiten Etage desselben Hauses guckte ein Serbe heraus und hängte seinen schweißgetränkten Jogginganzug zum Lüften. Der Gestank strich um alle Gegenstände, die unvorsichtig draußen platziert worden waren, auch um die frisch gewaschenen Höschen, Büstenhalter und Unterhemden einer alten Bulgarin, die im dritten Stock einen Balkon besaß, wo ihre Unterwäsche zum Trocknen flatterte.
Ein Grieche aus dem vierten Stock goss die an der Brüstung seines französischen Fensters befestigten und von Dr. Koch untersagten Gurken- und Tomatenpflanzen. Das überflüssige Wasser strömte nach unten, und die Wäsche wurde wieder nass.
Ein Albaner darüber hängte aus dem kleinen Fensterchen seinen kleinen bunten Teppich, der ihn an seine kleine liebe Heimat erinnerte, und klopfte ihn aus.
Auf dem Außensims der Dachwohnung legte ein Ägypter schmale Papyrusstreifen zum Trocknen hin, die er mit bunten schakal- und pavianköpfigen Menschen bemalt hatte, um sie am nächsten Tag auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Am Rande jedes Streifens waren winzige Kähne mit Pharaonentöchtern gezeichnet, die in die taufeuchte Luft glitten und in der Ferne verschwanden. Der Ägypter dachte, die schlechte Farbe sei schuld, dass nach dem Trocknen keine Kähne mehr zu sehen waren, und schimpfte auf die deutschen Farbenhersteller.
Mein Onkel Robert wohnte im Erdgeschoss. Während er auf seiner Terrasse seine Guten-Morgen-Zigarette rauchte, wurde er zu dem nach Schweiß riechenden, begossenen Staubsack, der er bis heute geblieben ist –
Oder ist »der er bis heute geblieben ist« überflüssig?, dachte Moritz und schlief endlich ein.
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FRIEND, POETRY, WINE
Ich bin der Gärtner, doch ich bin auch die Blume,
mir ist nicht einsam im Verlies der Welt.
(Ossip Mandelstam)
1.
Unten im Tal: Ein Wasserfall wird zu einem Bergbach. Steine zeigen ihre Rücken. Wüsste man nicht, dass das Wasser ist, was sich bewegt, könnte man die Steine für Fische halten. Frauen knien auf dem Geröll, beugen sich zum schnellen Wasser und schwenken die Wäsche aus. Das eisige Bergwasser wäre nicht auszuhalten, aber die Wäschestücke zappeln in runden Weidenkörben, die Vogelbauern ähneln. Die Frauen halten bloß die Ringe oben an den Körben. Die Kiefern hier unten können endlich den Stamm aufrichten und die Zweige ausbreiten.
Oben, fast schon im Himmel: Kiefern knien auf den Felsen. Katzenähnlich stemmen sie sich mit ihren Tatzen gegen den Stein und blicken nach unten, wo die Frauen vor dem Bach knien.
In der Mitte: Eine natürliche Terrasse bildet einen ins Tal geöffneten Klosterhof. Hier hockt ein Mönch vor einer katzengroßen Zirbelkiefer, die auf einem steinernen Tisch steht und sich raubtierhaft nach unten beugt, zu einem im Staub badenden Schmetterling.
Der Mönch schaut nach oben, zu einer Felsenkiefer, die, nach unten gekrümmt, eine Wiederholung des Klostergarten-Bäumchens ist, oder wiederum von ihm wiederholt wird. Nur einen Zweig muss man bei der kleinen entfernen, der eine falsche Richtung genommen hat. Der Mönch richtet sich auf und geht eine Säge holen, die geschrumpfte Variante einer Säge, nicht größer als eine Katzenpfote. Unterwegs bleibt er bei einem Ahorn stehen. Etwas stört den kleinen luftigen Kosmos seiner Krone. Der Mönch hockt sich vor ihn hin, um die gestörte Ordnung zwischen den Ästen auf Augenhöhe betrachten zu können.
Der Mönch ist alt. Er weiß nicht, wann er alt geworden ist. Seine Augenschärfe ist ihm erhalten geblieben, er glaubt das dem Rhythmus der Äste zu verdanken, der Gewohnheit, das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu sehen. Er kennt in seinem Hof jede Staude, jede Rispe, sogar die Grasgrannen. Auch jeden Kiesstein um den Teich in der Mitte des Klosterhofs, so dass er immer weiß, welcher Stein sich gleich als eine kleine Schildkröte erweisen wird. Er weiß, dass es eine Zeit gegeben hat, in der er sich diese Einzelheiten nicht merken konnte, nicht einmal von ihnen wusste, aber er kann sich diese Zeit nicht vorstellen. Nicht mehr.
Sein Liebling: eine Lärche. Ein zwar mit einer nervösen Biegung, aber sonst unbeirrt emporstrebender Stamm, nur drei Seitenäste oben, die sich zu wundern scheinen, dass sie noch da sind. Einsam und sonst schwer zu bestimmen: standhaft? gelassen?
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