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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt. Mit großen Haselnussaugen (er strich die Haselnussaugen). Mit zu den Schläfen gezogenen Augen. Nein, auch das nicht.
    Ach was, dachte Moritz, ich lasse für Rami einen Zettel da. Kann er Deutsch lesen? Und wie soll ich schreiben? »Sehr geehrter Herr Rami …« Das ist doof. Wie ist denn der Nachname? Moritz öffnete und schloss die Gartentür und hörte zu, wie sie quietschte, während das Eis-Mädchen seine Sachen einpackte, vom Geschrei der Geschwister genervt. Ihr Ferienjob war zu Ende, die Ferien noch nicht, drei Wochen Kopftuchtragen und zweimal Flugangst. Der Vater musste nur noch ein paar Rasen mähen.
    4.
    Moritz radelte einen Bach entlang, orange Lilien im hohen grünen Gras, hechtgrau das Wasser, das alte Rad quietschte lauter als die Frösche und Heupferdchen. Ich werde sagen, dachte er, dachte aber gleich an das andere Mädchen: an das nur für ihn sichtbare, unsichere, unsichtbare.
    Sie kommt in einem schmalen Kahn über einen grau glänzenden Bach, schmächtig, schüchtern, die Schultern hochgezogen. Ich werde sagen, denkt sie, wenn ich endlich vor dem Lichttor stehen werde: »Hi, ich kam über viele Wege …« Sie kommt aus der Lichtlosigkeit und gelangt zum Tor, das offen ist, ihr aber den Weg versperrt, jetzt, wo sie fast am Ziel ihrer Fahrt ist. Ihr Herz schwimmt herauf und versperrt ihr den Atem, sie sagt trotzdem: »Hi, ich kam über viele Wege. Die Brote, die man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, was Hunger ist, wurden mir weggenommen. Der Wein, den man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, was Rausch ist, wurde mir weggenommen. Der Papyrus, den man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, wie meine Richter heißen, wurde mir weggenommen. Der Schmuck, den man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, dass ich Königstochter bin, wurde mir weggenommen. Mein Bildnis, das man mir auf den Weg mitgegeben hatte, damit ich nicht vergesse, wie ich aussehe, wurde mir weggenommen. Die Himmelsschlangen bespuckten mich. Aber mir wurde ein Schreiber geschickt, der mein Gesicht erkannte. Ich kann mich an die Namen der 11 Götter erinnern« (sie stockt) »und an die der 42 Götter. Ich bin nicht schuldig.« Das Tor entspannt seine Luftsperre und sie entkommt den Gassen des Städtchens, in das sie, als sie auf ihrem langen Weg zu ihren Richtern war, für die Kunst- und Kulturliebhaber verschleppt wurde.
    5.
    Moritz radelte in die Stadt, entschieden und entschlossen. Die Eisdiele war leer, aus dem länglichen Dunkel hinter der Wasserfarbentheke erschien eine fröhliche dicke Tante, die Moritz kannte, seit er denken konnte, und schaute ihn fragend an. »Äh«, sagte Moritz. »Grüß Gott«, sagte er und fuhr weiter. Sein Magen freute sich heimlich über das Ausbleiben des Eises.
    6.
    Die Mädchen, die einander gleichen, reihen sich die Museenwände entlang und lächeln unsicher, die Schultern hochgezogen, die Streifen ihrer Kleider sind mit den Namen ihrer Richter beschrieben. Und von uns bleibt nichts. Alle unsere Datenträger sind viel fragiler als Pergament, Papyrus und Papier, die schon viel anfälliger als Ton und Stein waren, dachte Moritz, stieg vom Rad und schrieb das auf, auf das graue handgeschöpfte Papier seines Notizbuches.
    7.
    »Das ist eine Schande, sie hängen ihre Wäsche einfach auf den Balkons zum Trocknen auf und ihre Teppiche breiten sie auf den Gehsteigen zum Waschen aus, eine Balkanisierung unserer Städte ist das. Das ist es, eine Balkanisierung! Und sie klopfen ihre Läufer einfach aus dem Fenster!« Mit dieser Kunde erschien Robert zum Abendbrot.
    »Lass die Leute leben, wie sie wollen«, sagte Anita.
    »Ich lasse sie leben, wie sie wollen, keine Frage, aber nur solange sie mit ihrem Leben das meine nicht stören«, sagte Robert.
    »Was stören sie dich, du siehst sie kaum«, sagte Anita.
    »Na eben! Ich fahre nur ungern in die Innenstadt, weil sie dort alles balkanisiert haben«, sagte Robert.
    »Quatsch«, sagte Anita.
    »Du musst mal mittags in die Stadt fahren und selber sehen«, sagte Robert.
    »Da habe ich keine Zeit für«, sagte Anita.
    »Na, wenn man immer am Telefon hängt«, sagte Robert.
    »Ich hänge nicht am Telefon«, sagte Anita.
    »Und mit wem hast du gesprochen?«, sagte Robert.
    »Mit dir«, sagte Anita.
    Nachts konnte Moritz nicht schlafen, weil ihm eine Geschichte einfiel, die weiterzudenken er nicht aufhören konnte, die aufzuschreiben er

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