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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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dachte damals Kind-Natascha und vergaß es wieder.
    Und nun kommt dieses Wort – Isabellafarbe – zur erwachsenen Natascha. Passt, mit Schweiß und Schmerz getränkte Farbe , denkt sie. Erst jetzt weiß sie wieder, als würde sie noch einmal wach, warum sie den heißen blutigen Schweiß über ihre falbe Haut krabbeln spürt. Männerlügen. Fjodor. Hat er ihr nicht ein langes glückliches Leben versprochen?

    ♦

    Fjodors Sachen konnte sie nicht ansehen: Dass sie da waren und er nicht da war. Dass Tante Mascha, die immer wieder kam, um einen tüchtigen Blick auf alles zu werfen, sich bestimmt schon überlegt hatte, was davon welchem ihrer Söhne passen würde. Nein, sie kam eigentlich nicht, um einen tüchtigen Blick auf alles zu werfen, sondern um Natascha zu helfen, mit der kleinen Mascha und überhaupt. Auch heute Morgen, als Natascha von Maschas Lachen erwachte, konnte sie eine Weile noch im Bett bleiben (Sonntag), weil Tante Mascha gerade wieder zu Besuch war und aufpasste.
    Natascha war auch dankbar. Als sie noch in ihrer nördlichen Heimatstadt bei ihren Verwandten wohnte, war »undankbares Miststück« eine nahezu feste Bezeichnung für sie, Tante Mascha wurde damals nicht müde, ihr zu erklären, was es für die Familie bedeutete, noch eine zu versorgende Person aufzunehmen. Sie wollte das nur als Erziehungshebel verwenden, hatte das nicht ernst gemeint, was Natascha erst viel später begriff. Damals hatte sie an der Vorstellung, sie sei ein schlechter, undankbarer Mensch, gelitten.
    Bei ihren Verwandten galt sie als ein dummes, unschönes, kränkliches und bedauernswertes Kind. Nachdem sie abgehauen und dann als verheiratete Großstädterin mit gutem Beruf wieder aufgetaucht war, behandelten sie ihre Verwandten mit ängstlichem Respekt. Ein Volksmärchen: der dümmste Sohn/die unansehnlichste Tochter heiratet eine Prinzessin/ einen Prinzen im fernen Land und kommt zurück mit reichen Geschenken und nimmt Brüder und Schwestern mit. Die Brüder werden zu Ministern, die Schwestern heiraten Barone und Generäle, Mutter und Vater genießen in Ruhe und Würde ihre alten Tage. So wäre das in der Logik einer Familie. So war das nicht. Ihr Mann war tot. Sein Königreich war für ihre Verwandten unsichtbar. Allerdings tat Tante Mascha so, als würde sie den Sinn der vielen Haufen Papier verstehen, die überall lagen und warteten, bis Natascha Fjodors Archiv ordnen würde.
    Als sie zwischen ihrem Job, dem Krankenhaus und der kleinen Mascha nicht weiter wusste, war keiner von Fjodors Freunden in Petersburg. Und Janis konnte ihr nur einen Joint anbieten und Amy Winehouses CDs schenken. Es war eben Tante Mascha, die kam und half. Als sich alle Verwandten zur Beerdigung sammelten, die Fjodor nie gesehen hatten, wurde aus der hallenden Riesenwohnung eine Verlängerung ihrer schäbigen Kindheit, als wäre ihr Leben wieder in die Gleitbahn geraten, für welche es bestimmt war. Nur Cousine Ljuba, die Ljoscha, den Urheber der Narbensignatur auf ihrem Schulterblatt, geheiratet hatte, kam nicht, weil Natascha sagte, Ljoscha dürfe auf keinen Fall kommen.
    Und nun – kann sie etwa sagen: Danke, das war’s? Bis sich wieder mal die Not meldet.
    Der Sumpf, der dich schützt und zugleich nach unten zieht, in das Feuchte und Dunkle: gemeinsames Abendbrot, Geschenke zu Geburtstagen, Ferienreisen und Feste – sie halten dich fest, bis du erstickst oder dich langsam in die eigene Tante, die eigene Großmutter, die eigene Urgroßtante verwandelst. Natascha denkt an Stachelschweine – Marina hatte ihr einmal von Stachelschweinen erzählt –, die frieren, wenn sie zu weit voneinander entfernt sind, und sich stacheln, wenn sie gegenseitige Wärme suchen. Das heißt, natürlich, Marina, die Natascha nie wirklich wahrgenommen hatte, hatte einmal in ihrer Gegenwart mit Fjodor davon gesprochen.
    Stachelschweine also, deine Nächsten. Sie lieben es, dir zu helfen, am liebsten hat die Familie insgeheim das Leid, alle kommen zusammen und helfen, und der Leidende ist offen wie eine frische Wunde, aus der die Geister der Familie trinken, die geheimen Säfte des Einzelnen. Das Leid bindet einen am sichersten an sein Geblüt. Ein neuer Bund – wenn die zwei sich je an einem Zipfel des Bandes halten – kann einem aus dieser warmen Ursuppe der Sippe heraushelfen. Natascha schließt die Augen und stellt sich einen großen Esstisch vor, ein Urbild des Familiären. Quer über den Tisch liegt eine Art Tischläufer, an je einem Ende hängt jeweils

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