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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Punkte in der Mitte des weiß gewordenen Regenbogens, waren zu klein für den aufgegangenen Fleischteig. Fast empfand er physische Angst vor dieser Erscheinung. Die Stimme des Ungeheuers war zu schrill für jeglichen Inhalt. Vielleicht konnte er sich deswegen nicht an die Worte erinnern. An kein einziges Wort.
    Und er wollte das auch nicht, die Performance »Ungeheuer« rekonstruieren. Soll sie besser eine Blackbox bleiben. Dumm war all das auch deshalb, weil es eigentlich um eine Abschieds karte ging, die Laura, unordentlich und impulsiv wie sie war, ihm mit einer solchen Verspätung geschrieben hatte, dass das überhaupt keinen Sinn mehr ergab. Besonders die Abbildung einer wolkengrauen Kartäuserkatze auf der Rückseite reizte Marina (nicht Marina, das Ungeheuer). Der linke Maulwinkel der Katze war länger gezogen als der andere, was ihrem Mäulchen einen skeptischen und ironischen Ausdruck verlieh. Es gab sie nicht mehr, das Ungeheuer hatte die Karte zerfetzt.
    »Dieses Ungeheuer ist nicht meine Frau«, sagte er laut. Das dauerte nur wenige Sekunden. Das Untier gab sich bald wieder als Marina aus und setzte in deren Gestalt das fort, was sie gemacht hatte, bevor ihr Körper von ihm besetzt worden war. Es stopfte Marinas Sachen in eine lumpige Reisetasche statt in den praktischen und angemessen aussehenden Koffer, den er Marina für ihre vielen Reisen geschenkt hatte. Es sagte: Ok, mach’s gut, ich muss jetzt los, ich rufe dich aus Frankfurt an, oder früher, ich weiß nicht, ich werde fast nur unterwegs sein – es kostete das fremde Wesen sichtbare Mühe, seine Gesichtsmuskeln wieder zu Marinas Gesicht umzuformen und sie so zu halten. Es küsste Andreas und er spürte die trügerische Vertrautheit in der Berührung der trockenen warmen Lippen.
    »Dieses Ungeheuer ist nicht meine Frau«, sagte er noch einmal laut. Draußen brummte Berlin, zustimmend. Andreas kippte vertrauensvoll das Fenster. Der Mariannenplatz lachte und bellte auf seinem weitflächigen Schneerasen, war mit sich selbst beschäftigt und sonst teilnahmslos. Es wurde kälter im Zimmer.
    ANDREAS / MARINA
    Das war natürlich idiotisch, sagt sich Marina schon seit drei Tagen. Auch das frisch verschneite Städtchen und seine Türmchen und hölzernen Trägerfiguren mit blauen Augen und roten Nasen, seine kleinen Einkaufsarkaden mit Pfefferkuchenhäuschen in den Auslagen und ein tapferer nicht gefrorener Fluss lenkten sie nicht ab. Sogar während der Besprechung, zu der sie hierher gekommen war, konnte sie sich nicht konzentrieren. Selbst die immer zerstreute Frau Elegien flüsterte erstaunt: »Frau Bach, das haben wir schon mit der Stiftung besprochen.« Eben das, gerade das wollte sie nie, dachte sie während der Sitzung und denkt sie auch jetzt, obwohl ihr Begleiter ununterbrochen etwas erzählt. Er zeigt ihr liebenswürdig das Städtchen, solange Frau Elegien noch einige Papiere unterzeichnet. Sie hätte diese Katzenkarte nicht umdrehen sollen. Das passt gar nicht zu ihrem Selbstbild und zu dem Bild, von dem sie will, dass Andreas es von ihr hat. Soll sie ihn um Entschuldigung bitten? Wird das etwas bringen? Ist diese fast schwerelose Beziehung, diese Beinahe-Unverbindlichkeit, die vor so vielen Dummheiten des Alltags schützt, jetzt wiederherzustellen? War es nicht so, dass sie diese Unverbindlichkeit nur für sich wollte, nicht für den immer schweigsamer und verschlossener werdenden Andreas? Andererseits hatte sie zum Beispiel keine Affären gehabt, nicht einmal daran gedacht. Aber aus seiner Sicht: Wollte er überhaupt diese schwerelose Unverbindlichkeit? War das mit Laura nicht seine Art, gegen ihre, Marinas, ständige Abwesenheit zu protestieren? Das heißt: Würde er ihre Entschuldigung richtig verstehen? Dass sie sich nur dafür entschuldigt, eine nicht für sie bestimmte Karte gelesen zu haben? Die Schwachen suchen nach den Schwächen der anderen, denkt sie, und er, der ein eher charakterloser Mensch ist, wird aus ihrer Entschuldigung seine Vorteile ziehen wollen. Nur welche denn?, fragt sie sich achselzuckend. Hätte er sich damals, inzwischen vor mehr als zwanzig Jahren, nicht von ihr getrennt und Sabine geheiratet, wären sie jetzt vielleicht eine gute Familie, aufeinander abgestimmt und ohne diese lächerlichen Missverständnisse eines jungen Paares? Oder wären sie vielleicht auch längst geschieden, wie er und Sabine, wie auch sie selbst und ihr erster Mann? Wieso ruft er mich nicht an? Ja, wieso eigentlich? Ihr Begleiter erzählt

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