Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
starrte sie an. Sie sah sich, wie sie für einen Fremden aussehen musste: auf einer grün-orange gestreiften Decke sitzend. Mit einem Plastikbecher in der Hand und vor einer geöffneten Flasche. Allein. Nur in Gesellschaft der auf den Bäumen schaukelnden Hemden und Socken. Sie sah an seinem freudigen Grinsen, dass sie seiner Lust ausgeliefert war. Dreihundert Meter von hier entfernt begann das normale Leben mit den Spaziergängern, mit den Kindern, die Nüsse für die Eichhörnchen auf den Handflächen hielten, mit den Eisverkäufern. Dieses Leben hinter den Bäumen und Büschen schien nun unerreichbar. Und hier war das ganze Elend ihrer Jugend, mit gewalttätigen Männern, die nach billigem Schnaps und verfaulten Zähnen rochen, nach zerfallenden Klamotten, die genau so selten gewaschen wurden wie die Körper in ihnen. Diese Klamotten/Körper nah an ihrem Leib, gleichgültig, aufgeregt. Er war stark genug (in Fjodors Alter). Sie hätte keine Chance, weder im Wegrennen noch im Kampf. Aufstehen? So würde sie seinen Argwohn wecken. Oder seinen Jägerinstinkt. Er war schon nah. Er hockte neben ihr. Sie reichte ihm die Flasche mit einer freundschaftlichen Geste. »Warte«, sagte sie, »ich bringe was zum Essen.« Und während er noch trank, ging sie (langsam) durch den grünen Vorhang zwischen den Welten.

    ♦

    Als sie wieder dort war, wo Kinder und Eichhörnchen Nüsse knabberten, lief sie zitternd und stolpernd die dunklen Alleen entlang. Kinder und Eichhörnchen, Großeltern und Eisverkäufer schauten sie angewidert an. Irgendwann begann sie die vom schwarzen Wasser gespiegelten Säulen und Nymphen, Zinnen und Kuppeln, Türme und Bäume wahrzunehmen: alles türkisblau und ziegelrot, cremefarben und silbergrün. Sie ging langsamer. Sie spürte zum ersten Mal seit Fjodors Tod eine spontane Lebensfreude und schämte sich dafür. Nur um Marinas Decke war ihr ein bisschen leid. Sie ging durch die staubigen Straßen mit nicht so hohen Häusern zum Bahnhof und sah aus wie ein verweinter betrunkener Teenager in einer knielangen Leinenjacke.

    ♦

    Er sah sich um. Das Ding war schon zu lange weg, als dass es sich gelohnt hätte, weiter zu warten. Sie hatte wohl Angst vor ihm gehabt. Er hätte ihr nichts getan, er ist nicht so einer, er ist ein anständiger Mann. Egal. Ledermantel ist alt, aber noch in Ordnung. Schirm ist Schrott. Alles andere ist okay, selbst der König von Großbritannien würde sich solcher Bekleidung nicht schämen. Oder haben sie immer noch die Königin? Auch egal. Der Wein ist scheußlich. Aber der Koffer ist stark. Man kann ihn später für gutes Geld verkaufen. Kann man auch den Hut absetzen? Nur, wer braucht so einen albernen Charlie-Chaplin-Hut? Er packte den geräumigen Koffer aus leichtem Metall und rollte ihn zum chinesischen Dorf. Dort gab es einen Keller, der trocken war und vor unerwünschten Gästen sicher. Eigentlich eine Hausmeisterwohnung. Lenka, die Hausmeisterin, ließ ihn dort bleiben und ihr helfen. Und die Drachen-Wächter ließen das zu. Er darf dort in den Höfen nur nicht herumlaufen und die reichen Gäste stören. Das war schon zwei Jahre her, das war das vorige Mal, dass er Glück hatte. Und nun das hier. Gut, dass Lenka alle Stücke zu eng sein werden, sie wird ihm nichts wegnehmen. Die lustige Decke wird er ihr auch nicht geben. Ihm fehlte schon seit Jahren eine gute Decke. Nur schade, dass das hübsche Ding weg ist, die Schlampe. Sie hat versprochen, Essen zu bringen. Wo hat sie nur solche guten Sachen zusammengebettelt?

    ♦

II

In der Frühe

    Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
Dort gehet schon der Tag herfür
An meinem Kammerfenster.
Es wühlet mein verstörter Sinn
Noch zwischen Zweifeln her und hin
Und schaffet Nachtgespenster.
– Ängste, quäle
Dich nicht länger, meine Seele!
Freu dich! schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.

    (Eduard Mörike)

ZWEI WOLKEN ÜBER DEM MARIANNENPLATZ
    ANDREAS / MARINA
    Dieses Ungeheuer ist nicht meine Frau, dachte Andreas. Das konnte nicht Marina sein. Marina war einem Windspiel ähnlich und hätte auf keinen Fall so viel Körper, um dieses Ungeheuer so glaubwürdig darstellen zu können: Um die ausdruckslos gewordenen Augen des Ungeheuers breitete sich in alle Himmelsrichtungen eine schwere weibliche Urmasse ( in alle sechs Himmelsrichtungen , wie Marina immer sagte und jedes zweite Mal erklärte, dass dieser Ausdruck von den alten Chinesen stamme, die oben und unten mitzählten). Die Augen, winzige graue

Weitere Kostenlose Bücher