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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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einer aus dem Paar, an jedem von ihnen hängt eine unendliche Traube der jeweiligen Familie. Das Ganze bleibt im Gleichgewicht, bis irgendwann die beiden auf den Tisch hinaufgleiten und die Trauben beidseitig abfallen. Mein Band wurde in der Mitte zerrissen, denkt Natascha im Halbschlaf und öffnet schnell die Augen.

    ♦

    Es gab eine ganze Garderobe von Sachen, die Fjodor so gut wie nie anhatte. Natascha tat sie in Tante Maschas viele Kunstleder-Reisesäcke, für die Ihrigen ( Unsrigen ).
    Die Sachen, die Fjodor gerne und oft trug, steckte sie in seinen großen Koffer und fuhr nach Puschkin, einen Petersburger Vorort, eine einstige Zarenresidenz voll sinnloser Pracht der Geschichte. Von den zwei Palast-Parks mochte Fjodor den verwilderten, mit dunklen Alleen, mit künstlichen romantischen Ruinen, mit buckligen Drachenbrücken. Er mochte die Pagoden des »Chinesischen Dorfes«, wo vor zweihundert Jahren Höflinge logierten, wo der junge Puschkin einen älteren hochgeschätzten Kollegen besuchte, wo nach der Oktoberrevolution die Rotarmisten vieles verschrotteten und verschmierten, wo im Zweiten Weltkrieg die deutschen Soldaten dasselbe taten, wo der kleine Fjodor zwischen den abblätternden und abbröckelnden Überbleibseln spielte, wo heute eine Datscha-Siedlung für die Reichen entstand. Niemand durfte mehr in die Gässchen des winzigen China. Ein verbotenes Dorf, von stämmigen Drachen in Schirmmützen bewacht.
    Sie ging weiter, zu einer Lichtung hinter einer kleinen gotischen Kirche aus roten Ziegeln, die keine Kirche und keine Gotik war, sondern ein weiteres Spielzeug der Zaren, Tribut an die romantische Mode. Sie wusste all das von Fjodor, der sie oft und gerne hierher gebracht hatte. Einmal waren sie auf dieser Lichtung, saßen auf einer alten Decke, die Fjodor von Marina geschenkt bekommen, genauer gesagt, die er vor ihrer Entrümpelungswut gerettet hatte. Sie aßen Schnittchen und tranken Bier bis in die helle Nacht hinein. Natascha dachte damals an den Sommernacht-Spaziergang mit Mischa Bison, in ihrem Heimatstädtchen, das noch nördlicher lag als Petersburg und noch hellere Nächte hatte. Fjodor schrieb etwas in seinem Notebook, sie saß neben ihm mit ihrem zugeschlagenen Java-Programmier-Buch. Kurz vor seinem Tod, im Krankenhaus, erinnerte er sich an diesen Tag und sagte, es wäre damals eine besondere Stille in ihr gewesen, eine langmütige Freundlichkeit, wie sie da schweigend neben ihm saß, er sagte, das wäre seine Vorstellung vom Paradies gewesen.
    Sie zog seine Wollsocken dem Holunderstrauch über die noch nicht reifen Beerendolden.
    Seine Hemden verteilte sie unter den Silberpappelzweigen. Sie schaukelten, bunt.
    Eine verwaschene hellgrüne Leinenjacke zog sie sich über das T-Shirt und krempelte die Ärmel hoch.
    Seine Jeans legte sie über das hohe Gras, das unter dem Gewicht des dichten Stoffes sank.
    Den Hut – der kleinen Tanne, wie der Bethlehemstern einem Christbaum, dachte sie.
    Seine dunkle schmale Krawatte – einer Trauerbirke mit einigen vom noch fernen Herbst zu früh berührten Strähnen: Gelb in Grün, wie es manchmal eine ergraute Strähne im noch vollfarbigen Haar gibt.
    Den alten Ledermantel – einem Ahorn.
    Den zugeschlagenen Regenschirm – steckte sie mit der Spitze in die Erde. Ein straffes Fragezeichen.
    Als letztes blieb eine Flasche Wein im Koffer. Chateauneuf du Pape , ein Geschenk seiner französischen Übersetzerin, der Wein aus einem Mandelstam-Gedicht: Man trinkt auf die Kriegs-Aster (Gartenblumen oder Ordenssterne des Ersten Weltkriegs? Oder Fransen der Offiziersepauletten?), auf Rolls-Royce mit Rosenvase, auf Pelz und auf schweren herrschaftlichen Atem – und gegen die Schrumpfung der Welt in den sowjetischen 30er Jahren. Man trinkt imaginären Wein. Aus der sowjetischen Realität um Mandelstam war der wirkliche Chateauneuf du Pape längst verschwunden. Fjodor wollte den Wein an seinem Geburtstag trinken, der eigentlich heute war. Sie entkorkte die Flasche. Sie nahm aus ihrer Schultertasche einen Plastikbecher. Sie versuchte am Wein zu riechen. Das heißt, sie versuchte den Geruch mit den Wörtern zusammenzuführen, die Fjodor, der manchmal einen Weinkenner spielte, gerne dazu sagte. Ist die Nase dieses Weines fruchtig oder mineralisch? Schwarzkirsch oder Backpflaume? Holunderrinde oder Pflaumenhaut? Safran oder Trüffel? Stachelbeeren oder Stachelschweine? Sie hatte keine Ahnung. Am meisten nahm sie den Plastikgeruch des Bechers wahr.

    ♦

    Er kam und

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