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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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diese violette Luft und dieser goldene Wein mit einem Freund zu teilen wären, dessen klarer Verstand und leichter Geist die Bedeutung der Berglandschaft erkennen könnten, des Lichtes, das im Teich auf den Kräuselwellen zuckte, der gespreizten Föhrennadeln im Himmel. Mit dem man Gedichte austauschen könnte. Aber was willst du tun – der vorige Mönch war zu einem Bonsai geworden, unwiderruflich. Der Gast spricht kein Wort der hier gängigen Sprachen. Er hatte einst drei Freunde, aber sie zählen nicht.
    John hörte ihm aufmerksam zu, der milde Klang der fremden Sprache schien ihm vertraut zu sein. Er antwortete, dass er hier sitze und nicht wisse, was mit seinem Freund, dem Dichter in einer Dichterstadt, gerade geschehe, der sterbe wahrscheinlich, und er, John, der hier sitzt, müsste jetzt eigentlich dort sein; dass er, John, der hier sitzt, jetzt eigentlich mit seinem Freund dessen letzten Wein trinken müsste, sein Gehen begleiten.
    Der Mönch hörte ihm aufmerksam zu. Einige Wörter, die er erkennen konnte – friend, poetry, wine – ließen ihn denken, sein Gast hätte ihn verstanden. Nach dem dritten (dem besten, nach dem eine längere Trinkpause angesagt ist, denn es versetzt einen Trinkenden in den Zustand der Vollkommenheit) Glas Wein sprach er davon, dass er zu einem Dichter geworden war und nicht zu einem Mönch, wie es wahrscheinlich vorgesehen gewesen war, wie die Bauern im Tal und die Hirten in den Bergen meinten.
    Und John sprach nach seinem dritten Glas Wein davon, dass er manchmal zum Sterben bereit sei, von der Todesangst befreit. Manchmal aber nicht.
    Als es zu tagen begann und die Weinkanne sich leerte, ging John in den krausen Bergnebel.
    Im Gehen sah er noch die Lärche. Den einsamen Stamm mit einem kleinen Dreiwind im Kopf. Das ist der Mensch der Zukunft, dachte John: Die Menschen werden wieder zu mächtig. Sie werden nach noch mehr streben. Sie werden nicht mehr zum Olymp kugeln wollen, sie können ja nicht mehr kugeln mit ihren nur zwei Beinen und zwei Armen. Sie werden an ihren Geräten sitzen und stehen, die immer ausgeklügelter sein werden. Und eines Tages werden die Götter denken: Wenn es so weiter geht, werden sie so mächtig wie wir. Brauchen wir das? Nein! Und sie werden die Menschen wieder halbieren. Es entstehen Monomenschen: Auf einem Bein, zyklopisch, einarmig, mit Halbmündern, mit Blumentrichterohren, die mit ihrer Größe ihre Einsamkeit kompensieren werden. Sie werden langsam schwanken: an, vor, zwischen und mitten in ihren Geräten, von ihnen bedient und regiert. Das langsam schwankende denkende Rohr. Also aus der Sicht der ursprünglichen Kugelmenschen: entviert. Gevierteilt. Sehnsüchtig nach ihren drei Vierteln suchend. Halbierte Geschlechtsorgane mit falschen Hälften vereinend. Sich mit einer anderen aus zwei falschen Vierteln falsch vereinten Hälfte falsch liieren. Das dachte John noch, bevor er in den krausen Bergnebel ging.
    John: »Bye!«
    Der Mönch: »Bye!«

    ♦

STACHELSCHWEINE UND STACHELBEEREN
    Natascha legte sich hin und blieb eine Weile in einem traumlosen Schlaf. Kalme im Schlafreich, Stille. Als sie erwachte, war ihr Körper mit der klebrigen Flüssigkeit bedeckt, die aus ihren Poren sickerte: der übel riechende blutige Schweiß, der den dumpfen Schmerz aus ihrem Körper hinausführte, um dort Platz für die neue Portion Schmerz zu machen.
    Natascha schaut ihre Hände an. Sie schaut ihre Arme an. Ihre Beine. Ihre Füße. Sie wirft die Decke ganz zur Seite und schaut ihren Bauch an. Ihre Hüften. Beide Mulden zwischen Schambein und Hüften. Alles ist seidenglatt und trocken.
    Trotzdem spürt sie, dass aus den Poren ihrer Haut heißer blutiger Schweiß austritt.
    Als sie ein Kind war, fragte sie sich, welche Farbe die Haut hat. Und speziell ihre Haut, die zugleich dunkel und fahl war. Einmal hat sie in einem Buch von der spanischen Prinzessin Isabella gelesen, die drei Jahre lang ihr weißes Hemd nicht wechselte. Ihr Gemahl hatte ihr versprochen, eine Stadt noch bis Ende der Woche zu erobern und zurückzukehren. »Gut«, sagte sie, »geh. Ich werde mein weißes Hemd nicht waschen, bis der Sieg dein ist.« Klar, er hat gelogen ( sich geirrt, Männerlügen sind oft nur Irrtümer , denkt Natascha), und sie hatte das Hemd drei Jahre lang an. Das Hemd bekam davon einen Reitstallgestank und eine zarte Cremefarbe, und wenn ein Pferd mit dieser Fellfarbe zur Welt kam, hieß die Farbe, um die Prinzessin zu ehren, Isabella. Das ist die Farbe meiner Haut,

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