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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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konzentriert?
    Blick nach oben: Eine Lärche wird von einem Felsen über die übrige Landschaft erhoben. Winterstürme haben sie zu einem Asketen gemacht, nur drei Äste oben. In jedem Baum lebt ein Wind, denkt der Mönch, in den drei Ästen der Lärchen lebt ein gelassener Dreiwind: da oben ein großer Dreiwind; hier unten sein kleiner Bruder.
    2.
    Da kamen sie – vier Mann, laut, lachend, kein Wind, nur seit langem still stehender Weindunst in den Köpfen. Der Geruch betrunkener Männer war hier so unpassend, dass er lachte. Er war nicht sonderlich stark, wenngleich ihm übernatürliche Kampffähigkeiten nachgesagt wurden. Von den Bauern unten. Von den Bäumen oben. Er hatte nie Angst. Wem käme in den Sinn, diesen Ort zu schänden? Und nun –
    Die vier lachenden Männer beachteten den Mönch nicht. Der eine drohte plötzlich dem anderen mit einem Messer, das größer war als die Astsäge des Mönches. Der andere griff mit seiner breiten Hand den Lärchenstamm. Zusammen mit dem kantigen Topf wurde der Baum zu einer Art Morgenstern. Der Vierte stand schon in der Tür des Tempels. Der Mönch dachte mit unangenehmer Unruhe, die eigentlich zu gemächlich für die Geschwindigkeit des Geschehens war, an den goldenen Drachen. Der Dritte schrie: »Hol den goldenen Drachen, von dem uns die Bauern erzählt haben, schnell!«
    Er blickte schräg nach oben zu den Felsenkiefern. Er schaute seine Katzenkiefer an. Im Himmel kreiste ein Bussard. Im Staub der Schmetterling. Unten im Tal hopsten die Steinrücken im Bach, hier schien eine Quelle, die vom Felsen herunterfiel, zu erstarren. Eine Eidechse hätte ihn ablenken können, weil sie kein Gegenstück in der Umgebung hatte, nur den unsichtbaren Himmelsdrachen, der den Vorgang im Hof nicht ohne Interesse beobachtete. Der Mönch beachtete beide nicht, er wusste ohnehin, dass sich jedes Wesen auf einer Leiter befindet, auf der oben und unten seine kleinen und großen Ebenbilder sind.
    Grüße dich, Tod, ich bin bereit, dachte er, ich habe keine Angst. Er hatte in der Tat keine. Nur die Glieder seines Körpers schickten einander panische Signale.
    Der Erste begann über die Dreiastwaffe des Zweiten zu lachen. Der Zweite begriff die Komik und lachte mit. Der Dritte in der Türöffnung gab dem Vierten zu verstehen, dass er den Mönch wegschaffen musste.
    Er schaute die vier Männer an und sah sie klein, als wären da vier übermütige dreijährige Kinder. Er merkte sich jedes Glied, jede Bewegung, jedes Härchen an jedem der vier. Es kostete ihn keine Mühe, sie am Arm, am Kragen, am Fuß, am Gürtel zu packen und zurück zum Wald hinter dem Tempel zu bringen. Als wären sie in der Tat dreijährige Kinder.
    Was die vier plötzlich nüchtern gewordenen Männer verspürten, war schlimmer als Angst. Teile ihrer Körper schickten einander panische Signale: Den erstbesten Weg nehmen. Den dunklen Bergwald hinter sich zuschnüren!
    3.
    Der dritte Räuber hatte keine Lust mehr, den Seinigen zu folgen. Als er im Wegrennen zurückblickte, sah er, wie der Mönch immer kleiner wurde, bis er weniger Platz einnahm als sein kleinster Baum. Der dritte Räuber blickte noch einmal zurück, um sich zu vergewissern. Der Mönch war verschwunden. Das kann nicht sein , dachte der dritte Räuber und ging weiter, gegen den Zwang, zum Klosterhof zurückzukehren. Er stellte sich vor, wie wohltuend das sein müsste, einfach zu verschwinden. Wie der Mönch es getan hatte. Ob er das in der Tat getan hatte? Wir werden sehn, wir werden sehn, dachte er und nahm einen Seitenpfad. Er horchte. Ein Frosch. Ein Pirol. Kein Geräusch, das mit menschlichem Tun hätte verbunden werden können, war zu vernehmen.
    /
    Die anderen drei: Wo ist der Blöde, wo ist er? Hat der Scheißmönch ihn totgeschlagen? Verwundet? Sollen wir zurück? In ihren Augen kreiselten immer noch Ehrfurcht, Staunen und Fluchtwunsch. Sie wagten nicht einmal zurückzublicken, um zu prüfen, ob der dunkle Bergwald hinter ihnen gut zugeschnürt war. Sie gingen mit schlechtem Gewissen weiter. Na gut, der war sowieso blöd. Ein reiner Idiot. Ein blöder Tor.
    /
    Der Räuber: Völlige Leere, keine Seele, wenn man Tiere und Pflanzen nicht dazu zählt. Sollte man aber, dachte er und war selbst überrascht. Von allen Pflanzen und Tieren, dachte er, ist ein Mensch einem Bonsai am nächsten: ein Wesen zwischen Kunst und Natur, es wird als ein Wilder unbestimmter Bestimmung geboren und muss zu einem Menschen erst gepflegt werden. Von nun an werde ich mich selber

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