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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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über alte Sowjetschriftsteller, die er weiland hierher eingeladen hat, kennen Sie meinen Freund Jewtuschenko , Frau Bach? Er nennt weitere Irrwische und Lindwürmer der alten Zeiten, sie nickt, ohne zuzuhören, um mit dem alten Mann keinen Streit über die Bedeutung jener Irrwische führen zu müssen.
    Die auf vielen Hügeln gestaffelten Gassen, nach denen man sich sehnt, wenn man auf einer nördlichen Ebene aufgewachsen ist. Steinerne Wichtelmännchen und Erdgeister um die Brunnen, die man sich wünscht, wenn man schon im Kinderwagen durch gerade Alleen mit kühlen weißen Marmorskulpturen geführt wurde. Fachwerkhäuser, die man sich wünscht, wenn man als russisches Kind in den illustrierten Grimm-Märchen geblättert hat. Es gibt Menschen, die mit der Liebe zum Eigenen geboren werden, und es gibt Menschen, die mit der Liebe zum Fremden geboren werden. Sie verhalten sich zueinander oft wie natürliche Feinde, denken sich Theorien und Ideologien aus, hinter denen aber nur diese angeborene ästhetische Veranlagung steckt (vielleicht sind Patrioten auch in der Ehe treuer als Nestflüchter? Aber nein, mit ihr und Andreas ist das gerade andersrum), denkt Marina und will ihrem Begleiter etwas höfliche Aufmerksamkeit schenken. Sie fragt ihn, wo genau das jüdische Ghetto gewesen ist, von dem, wie sie gelesen hat, ein Brunnen und ein paar steinerne Ladenschilder übrig geblieben seien. »Das weiß ich nicht«, sagt der Mann und schaut sie mit melancholischer Gleichgültigkeit an. Seine blasse Stirn ist mit schwarz gefärbten Haarsträhnen beklebt. Sein preiselbeerroter Mantel ist zugeknöpft bis zu einer smaragdfarbenen Fliege, auf der sein Kinn ruht. Sein linkes Auge ist hinter einem in der Sonne blitzenden Einglas unsichtbar. Das heißt, nur sein rechtes Auge schaut sie mit melancholischer Gleichgültigkeit an. Mit gleichgültigem Ernst. Was das linke tut, ist ungewiss. In seinem Einglas spiegeln sich Schnee und Tannenbäume, Treppen und Schaufenster und bunte Passanten. Aber auch irgendwelche fahlen Umrisse und Schatten, die es in diesem sonnigen, nach Glühwein und heißen Maroni riechenden Winterviertel nicht gibt. Marina versucht ihr eigenes Spiegelbild im blitzenden Einglas zu finden, um nicht weiter in die gleichgültige Melancholie des rechten Auges schauen zu müssen. Aber sie findet sich nicht. In der oberen Hälfte des Monokels zeigt sich ein dunkler Kreis. Marina verabschiedet sich mit schnellem freundlichen Handschütteln, wendet sich um und folgt der Linie, die zum Gegenüber des Monokels und also zum gespiegelten Kreis führen würde. Hinter einer verglasten Touristeninfobude, die ihr im Weg steht und den Platz von dem gespiegelten dunklen Kreis abtrennt, markiert ein Brunnen den Anfang des ehemaligen Ghettos. Im runden schwarzen Glas, das ihn abdeckt, spiegeln sich die schrägen Dächer mit den fetten Tauben.
    Marina glaubt jetzt einen Grund zu haben, Andreas anzurufen: »Stell dir das vor«, sagt sie, in einer Hand den Glühwein, in einer anderen das Taschentelefon (in einer dritten die Zigarette, in einer vierten die empörte Gestik), »ich habe ihn gefragt, wo das jüdische Ghetto gewesen ist, und er hat gesagt, er hätte keine Ahnung! Das war nie im Leben wahr, wir sind zweihundert Meter davon entfernt gestanden, und er wohnt doch hier!«
    »Beruhige dich, das kann nicht sein«, sagt Andreas, »in diesem Land sind alle, die beruflich mit Kultur zu tun haben, so erzogen, dass sie dir mit Handkuss beliebig viele Ghettos zeigen.«
    »Was sagst du mir ›das kann nicht sein‹, ich habe gerade mit ihm gesprochen«, Marina denkt, dass ihr Anruf, statt etwas Ruhe zu bewirken, nur zu noch weiterer Spannung führt, sie glaubt nicht mehr, dass sie tatsächlich einen Grund für den Anruf hatte, und sagt: »Gut, ich habe keine Zeit mehr, ich ruf dich später an.«
    ANDREAS / MARINA
    Andreas erwacht, und sie sind wieder da, sie sind klar und sachlich. Das passiert Morgen für Morgen, wenn er nicht schnell genug aufpasst und nicht gleich die Augen öffnet, sondern, nach einer kindlichen Gewohnheit, noch eine Weile mit geschlossenen Augen liegen bleibt, in der Annahme, die freundlichen Träume würden noch einen Augenblick verweilen. An ihrer Stelle kommen aber sie, die Spalten seiner inneren Zeitung:
    1. Sein (Nerven)Zustand, der sich nicht bessern will. Angst vor Atemnot, Schweißausbrüche und Händezittern. Der Gedanke, dass man doch aufhören müsste zu rauchen (vom starken Verlangen nach einer Zigarette

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