Mörikes Schlüsselbein
begleitet).
2. Seine Mutter, derer mentaler Besitz schrumpft, die dabei nicht dümmer wird, nur der Welt entgleitet. Mal kann sie sich nicht an die Namen ihrer Enkel erinnern, mal weiß sie wieder, wie Franziska im Schulorchester die erste Geige spielte, und spricht tagelang nur darüber; mal vergisst sie, wozu die Gabel da ist, und isst Spaghetti wie Fingerfood, mal fragt sie Andreas, ob seine Frau wohlauf ist, weigert sich aber, sie beim Namen zu nennen, weil sie sich offensichtlich nicht sicher ist, wie die Frau heißt, Marina oder doch Sabine, oder sonstwie. Er ahnt, dass sie nicht mehr viel Zeit hat, dass in seiner Morgenzeitung schon bald das Bedauern veröffentlicht sein wird, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, als es noch nicht zu spät war (eine der vielen Unbehebbarkeiten, auf die jeder Mensch mit hellwachen Sinnen und willenlos zusteuert). Aber er kann nichts dafür, dass er so gut wie keine Zeit für sie hat. Keine Ruhe für sie hat. Kein Fenster für sie geöffnet hält. Sie ist in einem guten Seniorenheim, was auch nicht sein Verdienst ist, seine Eltern haben seinerzeit eine gute Altersvorsorge abgeschlossen, die er nie haben wird.
3. Die Kinder. Seine Arme kennen das Gewicht seines Sohns und seiner Tochter damals, als er und ihre Mutter sich getrennt haben. Dieses Gewicht ist das, was ihm am meisten fehlt. Aber es ist auch das, was es sowieso nicht mehr gibt, nirgends. Es gibt einen fast erwachsenen Jungen, der ihm ein Rätsel ist, und eine junge Frau, die er nicht versteht, die kränklich und launisch ist und mit einem munteren und ernsten jungen Mann eine muntere und ernste Beziehung hat.
4. Marina, von der er dachte, als er sie sich als seine Frau vorstellte, dass sie mit ihm sein dummes Leben teilen, ihm seine Ängste nehmen, ihm eine zuverlässige Freundin sein würde, die aber wer weiß wo und was treibt. Er fühlt sich fast betrogen, auf jeden Fall enttäuscht. Und nun noch das, mit dieser Karte.
5. Laura: Nachdem sie am kühlen Junimorgen ihre eigene Wohnung verlassen hatte, ohne sich zu verabschieden, und er nach einer Weile einfach ging (ein metallisches Einschnappen des Schlosses blieb in seinen Ohren), hat er sie nicht mehr gesehen. Sie schrieb in der Monate später unerwartet angekommenen und nun von Marina (nicht von Marina, von dem Ungeheuer) zerfetzten Abschiedskarte, sie sei mit ihrer Magisterarbeit fertig und habe eine Doktorandenstelle an einer Universität nicht weit von dem Städtchen gefunden, wo Caspar Waidegger wohnte. Im Nachhinein sah er, dass sie das seit langer Zeit vorbereitet hatte, sich an der Universität dort Bekanntschaften verschafft, an Konferenzen teilgenommen hatte und eher deswegen eine fleißige Studentin war als aus Interesse am Studium (sie wollte eigentlich Autorin sein). Andreas stellte mit Staunen fest, dass er sie nicht vermisste. Aber Marina. Ist das nicht kurios, dass sie sich so gut wie nicht sahen, nicht viel öfter als bevor sie zusammenzogen … sozusagen »zusammenzogen«.
4.a. »Dieses Ungeheuer ist nicht meine Frau.«
6. Sein Buch.
7. Eine Unruhe, deren Ursprung er nicht identifizieren kann, die aber in diesen ersten Augenblicken des Wachseins stärker ist als alle übrigen Sorgen. In ihren besten Momenten könnte er, hätte er eine Pistole gleich zur Hand, ohne zu zögern abdrücken: nur um sie los zu werden.
8. 9. 10. 11. 12.
Er öffnet die Augen. Hinter dem Fensterglas stehen zwei Wolken im klaren Himmel. Die Morgenzeitung verblasst langsam. Der Tag beginnt.
ANDREAS / MARINA
Marina radelte durch das noch dunkle frühmorgendliche Frankfurt (als sie Andreas mitteilte, dass sie am Frankfurter Flohmarkt ein Rad gekauft habe, sagte Andreas, dass sie damit nur die Fahrraddiebe unterstütze). Noch nicht alle Bausteine der Stadt waren aus dem Spielzeugkasten geholt, in den sie für die Nacht geräumt worden waren. Sie hätte sie ohnehin nicht bemerkt, weil sie konzentriert immer wieder dasselbe dachte: Es war sowieso klar, dachte sie, dass das ein Abschiedsbriefchen war. Und dass es Monate nach dem Abschied geschrieben wurde. Soll sie ihn noch mal anrufen? »Ich arbeite an einer Beziehung«, hatte Frau Elegien gestern während des coffee breaks über ihre beginnende Liebe gesagt, in einer ironisch-zurückhaltenden Manier, die sich ein Mensch nach einiger Lebenserfahrung zulegt, um gegen künftige Verletzungen im voraus gewappnet zu sein. Ist das nicht seltsam, hatte Marina dabei gedacht, ohne Frau Elegien richtig zuzuhören, an der
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