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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Beziehung mit dem eigenen Mann zu arbeiten, den du fast seit deiner Kindheit kennst? Sie radelte Richtung Innenstadt, parallel zum Main, der von ihr durch das rostfarbene Gebäude abgetrennt wurde, das die ehemalige Großmarkthalle und das künftige Untergebäude der Europäischen Zentralbank war (und zwischendurch die Sammelstelle für die zu deportierenden Juden). Das langgestreckte Bauwerk wurde zu Bauzwecken an vielen Stellen teilweise abmontiert und gemahnte an Nachkriegsstraßen auf Schwarzweißfotos: durchlöchert, von Sonne durchschossen. Durchsichtige hohe Wälder im Winter. Oben ragten die Hochsitze der Baukräne. Rechts von der radelnden Marina standen Männer in Parkas. Ihre Sportschuhe hatten genau so verstaubte Poren wie die Haut ihrer Gesichter. Männer aus Osteuropa, die als solche sofort zu erkennen waren, aber nicht weiter definierbar. Wandergesellen in der Erwartung, dass ein Polier sie in die Bauhütte rufen und an der Errichtung einer modernen Kathedrale teilnehmen lassen werde. Wenn man Wolkenkratzer mit Kathedralen vergleicht, meint man irrtümlicherweise in erster Linie ihre gesellschaftliche Bedeutung: Macht und Reichtum, die über das Leben der gemeinen Menschen emporragen. Aber sie haben eine architektonische Funktion: die Menschen dazu zu bringen, den Blick zum Himmel zu erheben. Dazu nützt irgendeine schöpferische Kraft die Macht, den Reichtum und die wandernden Bauleute, dachte Marina und hörte die Fetzen einer (oder mehrerer) osteuropäischen Sprache(n), bedrohliche Zartheit in den gedehnten Lauten. Sie bemühte sich, sie nicht zu aufmerksam zu betrachten, ihnen nicht in die Augen zu schauen. Weil diese Männer anders waren als die ihr vertraut gewordenen westlichen Männer. Dort im Osten war Mann noch Mann und Frau noch Frau. Das hieß, die Zeiten, in denen eine Frau nur ein wenig mehr Rechte als ein Haustier hatte (ob verwöhnter Liebling, ob nutzlose Nervensäge, ob wackres Nutzvieh – nur dass Frauen nicht gegessen wurden, weshalb man sie relativ selten schlachtete), waren zwar auch dort vorbei. Aber in der unmittelbaren Begegnung von Mann und Frau zählten die Rechte der Frauen nicht. Eine anständige Frau hatte bescheiden, gehorsam und unauffällig zu sein; anderenfalls wurde sie ein Gegenstand der männlichen Willkür: der Verachtung, der Gewalt, des Kaufs und Verkaufs, des Verführens usw. Also schaltete Marina automatisch auf bescheiden und unauffällig um. Wenn auch diese Männer in Parkas und staubigen Sportschuhen (die meisten allerdings sauber rasiert) sich momentan ausschließlich auf das Warten auf einen Bauführer konzentrierten. Oder darauf, dass sie einer im Vorbeifahren zu einer anderen Baustelle mitnahm. Sie standen in dem sich langsam entfaltenden kühlen Morgenlicht die Straße entlang und ähnelten den Frauen, die an anderen Wänden und andere Straßen entlang unter den honigwarmen Abendlaternen stehen. Die besseren Männer aus den Hinter-allen-Bergen-Ländern, wo in von verschneiten Obstgärten verdeckten Holzdörfern die schlechteren Männer vor den Bildschirmen sitzen, Computerspiele spielen und warten, bis ihre Frauen aus dem Hinter-allen-Bergen-Westen mit dem Geld zurückkommen, das sie mit Putzen und Pflegen verdienten (und sich ärgern, denn wer weiß, womit dieses Geld in Wirklichkeit verdient wurde).
    Quatsch, dachte Marina, als sie aus der Wirkungsweite der patriarchalischen Aura der Männer in Parkas und staubigen Sportschuhen hinausradelte. Ich bin fast vierzig, was soll das, dann dachte sie an ein russisches Sprichwort: In der Fremde ist auch eine Alte eine Gottesgabe. Sie lachte laut über den Schwachsinn, der in ihrem Kopf unter der Wirkung der patriarchalischen Aura der Männer in Parkas und staubigen Sportschuhen entstand. Eine alte Dame sah sie erstaunt an und kürzte die Leine ihres Mopses, der sein geknittertes Sokrates-Gesicht trotzig nach Marina umdrehte.
    Tonja, die Ballerina, die in Frankreich ein Ballett inszeniert hatte und über Frankfurt nach Hause flog (damit sie Marina besuchen konnte), wartete bereits in einem Café, in dem sie sich verabredet hatten, und trank ihren Milchkaffee, die große Tasse mit beiden Händen umschließend, um ihre Finger nach der Frühkälte zu wärmen.
    Marina begann mit den morgendlichen Eindrücken, als hätten sie sich nicht vor einigen Monaten, sondern erst gestern zum letzten Mal gesehen, und erzählte von den Männern in Parkas. Dann fiel ihr ein, dass nicht nur Wandergesellen aus den

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