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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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verschwinden konnte, kränklich und viel älter als Tonja, und seit einigen Jahren von vielen körperlichen Plagen heimgesucht; Pawel, den Tonja immer mit ihren großen Ballerinaaugen besorgt, liebend und schweigsam ansah.
    »Der Arzt sagt, es singe ein Kanarienvogel in meinem Herz. Wenn er schon angefangen hat zu singen, dann sollte er nun besser weitermachen. Sonst, wenn er aufhört, werde ich auf der Stelle sterben.«
    Oh nein, bitte, bitte nicht , dachte Marina und fragte sachlich, um die Katastrophe mit etwas alltäglicher Normalität zu verschleiern: »Kannst du ihn hören?«
    »Nein. Aber der Arzt sagte, wenn er aufhört, werde ich innerhalb einer Sekunde den ganzen Gesang komprimiert hören können. Und sterben. Ich glaube jetzt, dass früher, als ich noch auf der Bühne tanzte, ich ihn jedesmal gehört habe, er sang mit meinen Tanzgöttern. Das war wohl eine Vorahnung.«
    Sogar über die Nachricht, dass Tonja, die Marina sich nie anders als an Pawels Seite vorstellen konnte, mit ihren Tänzern schläft, dachte Marina wegen dieses Vogels nicht weiter nach. Sie dachte, Tonja solle lieber wieder so schweigsam lächeln wie sie es immer tat, alles möge bitte ein Witz sein. Tonja sprach wieder:
    »Der Arzt sagt, er kann morgen aufhören zu singen, oder aber erst in zwanzig Jahren. So geht es mir nicht viel anders als allen anderen, die ja auch wissen, dass sie nicht unsterblich sind.« Tonja lächelte aufmunternd und zeigte damit, dass sie keine weiteren Fragen hören wollte.
    Marina sagte: »Großmutters Freund hat mir einmal zwei Kanarienvögel geschenkt und gesagt, ihr Gesang sei besonders schön. War er auch, wahrscheinlich. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe einen Fehler gemacht – ich habe sie ab und zu aus dem Käfig ins Zimmer gelassen. Ich dachte, es würde sie freuen, in den Zimmerpflanzen ein Stück Natur zu finden. Das Weibchen hat sich einmal den Flügel verrenkt und starb nach einigen Tagen. Das Männchen, den eigentlichen Sänger, das Weibchen piepste nur, habe ich einem Kanarienvogelzüchter geschenkt, der in unserem Haus im Erdgeschoß wohnte, aus seinem Fenster hörte man immer, wie seine Vögel Triller schlugen. Er hat mich streng angesehen über den goldenen Brillenrand, aber nichts gesagt. Wir wollen etwas besitzen und jemanden lieben. Und nehmen somit eine Verantwortung auf uns, der wir nicht gewachsen sind. Was auch immer wir miteinander machen, wir machen immer alles noch schlimmer.« Tonja schwieg und lächelte.
    Marina, die seit ihrer Kindheit ausgerechnet in Tonjas Gegenwart besonders ungeschickt gewesen war – bloß aus Bewunderung (ebenso in Pawels Gesellschaft) –, sagte, bereits im Reden wissend, dass das überflüssig war: »Erinnerst du dich noch an diesen alten Witz, wie einer mit schwerem Kater erwacht, seinen Freund anruft und fragt, ob bei ihm gestern tatsächlich eine Zitrone auf dem Tisch gehüpft sei. ›Ach, du warst das‹, schreit der Freund, ›der meinen Kanarienvogel in den Tee gepresst hat?‹« Tonja lächelte dasselbe Lächeln und schwieg.
    In der Nacht sah Marina vom Hängeboden nach unten, wo Tonja auf einem Klappbett lag: unsichtbar, unhörbar. Sie fragte sich, ob es nicht die Seele jenes Kanarienvogelweibchens war, die in Tonjas Herz trillerte (als Seelen singen ja vielleicht auch die Weibchen). Wir wissen nicht, dachte sie, wer tatsächlich wofür verantwortlich ist. Was, wenn unsere Unvorsichtigkeiten mit den einen dann viel später die anderen treffen? Und die Schicksalsschläge, die wir ertragen, sind möglicherweise von Ereignissen verursacht, die nichts mit uns zu tun haben. Wir wissen nicht, auf welche Weise alles mit allem verbunden ist. Die arme Natascha zum Beispiel, wieso musste sie Fjodors Frau und dann so früh seine Witwe werden, dachte Marina, um nicht an Tonjas Herz zu denken.
    ANDREAS / MARINA / MORITZ
    Wenn Moritz 90 Jahre alt sein wird, wird er eines Tages über seinen Vater schreiben wollen. Er wird versuchen, den Charakter seines Vaters zu rekonstruieren, die Anfänge seiner immer stärker werdenden Depression zu finden. In seinen späten Jahren konnte sein Vater, bis Marina gestorben war, nur ihre Gesellschaft ertragen. Dann kommunizierte er mit der Außenwelt nur über seine Putzfrau und einen Taxifahrer, der für ihn viele kleine Angelegenheiten erledigte. Seltsam, wird Moritz denken, dass er nicht mehr weiß, wie Marina gestorben ist. Er mochte sie und verdankte ihr sogar seinen ersten Roman, für den er die Bruchstücke ihrer

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