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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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gelb. Kann eine Wolke so lange im Himmel stehen, am selben Platz?, dachte sie, setzte sich im Bett auf und sah hinter zwei Türmen der St. Thomas Kirche zwei rauchende Schlote, die diese Wolken ausspuckten (als dritter, nicht qualmender, war hinter ihnen der Fernsehturm zu sehen). Die luftigen Morgenwolken wurden zu zwei Abgasstigmata.
    Andreas aber dachte immer noch, dass das zwei Wolken seien. Wenn der Himmel klar war, sagte er beim Erwachen: »Schau, das Wetter ist heute freundlich. Nur ein paar Wolken.« War der Himmel trüb, sagte er: »Diese Regenwolken versprechen keinen guten Tag.«
    Andreas öffnet die Augen und sagt: »Schau, das Wetter ist heute freundlich. Nur ein paar Wolken.« Marina unterdrückt das Verlangen, ihn zu korrigieren, weil sie sich versprochen hat, nie wegen derartiger Kleinigkeiten einen Streit anzufangen. »Ich arbeite an einer Beziehung«, denkt sie und lächelt.

    ♦

ICH HABE VERGESSEN, WIE DUNKEL DIE NACHT IST
    Ich habe vergessen, wie dunkel die Nacht ist, wenn sie nicht von Laternen, von Fenstern, von diversen Signal- und Fahrlichtern und von Hundehalsbändern, die diese Lichter widerspiegeln, von Kiosken, von tausend Taschentelefon-Glühwürmchen beleuchtet wird, dachte John, als der Vollmond hinter einem Berg aufstieg. Er sah eine lehnenlose Bank, die knapp einen mageren Menschen aufnehmen konnte: auf dem Rücken, Beine eng zusammen, Arme nah am Körper, oder, besser, Hände auf dem Bauch, nein, nah am Körper ist besser. Er legte sich hin, schloss die Augen und schlief sofort ein. Eine Fliege landete auf seiner Wange und weckte ihn. Er verjagte sie und schlief wieder ein. Sie landete auf seinem linken Handrücken und weckte ihn. Er verjagte sie und schlief umsichtig einen seichteren Schlaf, sodass er den Fliegenreiz registrierte und abtat, ohne sein Dösen ernsthaft unterbrechen zu müssen. Kein richtiger Schlaf – von Fliegen durchlöchert: am Augenlid, am kleinen Finger, auf der Nase, am Mundwinkel.
    Ich bin ein Sieb zwischen Wachen und Schlafen, träumte er, bevor er die Augen aufschlug und sah, dass er nicht in einem verlassenen und den Fliegen überlassenen Tempel übernachtete, wie er geglaubt hatte, sondern in einer heruntergekommenen Bushaltestelle. Drei Meter vor ihm stand ein Bus, rostig und ohne Räder. Die einstige Straße war unter dem Gras noch zu ahnen. Endlich sah er etwas, das vage auf die Gegenwart hindeutete. Sonst hatte es auf seinem Weg nur kleine und große Klöster gegeben, mit vielen oder wenigen Mönchen, oder leere, das heißt, von Affen, Schatten, Schlangen und Füchsen besiedelte. Wenn er nachts die Augen schloss, träumte er von den Mäulern der Kultplastiken, die mückenartig summten. Und von Füchsen, die die Gestalt von hübschen und bescheidenen jungen Mädchen und gelehrten und wohlerzogenen jungen Männern annahmen, die aber verschwanden, als er erwachte, wohl weil er gegen Tollwut geimpft war. Die Fuchsfeen aus den chinesischen Märchen hatten kein Interesse an ihm, dem Geimpften, dachte er fast mit Bedauern. Jennifer hatte ihm zum Abschied ein Zauberbuch geschenkt, »Strange Stories from a Chinese Studio«, mit einem Drachen auf dem Cover und vielen Füchsen darin, die zu einem armen Studenten in seine armselige Stube kamen, Wein mit ihm tranken, Gedichte lasen und zu seinen Geliebten wurden. In den einen Märchen waren die Füchse die Bösen, in den anderen die Menschen.
    Aber die Affen waren überall die Bösen. John verhielt sich sehr leise und huschte wie ein Schatten an den Affen vorbei. Nur einmal riss ihm ein junger Affe seinen Flachmann aus der Hand, nahm ihn zwischen die Zähne und drehte, bis der Verschluss in seinem Maul blieb, spuckte ihn weg und trank aus der Flasche. »Was trinkst du, Kumpel, wenn ich nicht da bin«, murmelte John und machte sich vorsichtig davon (es war zum Glück nicht seine einzige Flasche). Manche Klöster waren statt von Mönchen und Affen von Soldaten besiedelt, deren Uniform er nicht kannte und deren Sprache er aus der Entfernung nicht bestimmen konnte. Ab und zu zeigte sich abseitswärts Wetterleuchten, manchmal donnerte es. Vielleicht waren das ferne Explosionen und Salven. Jetzt war es still und neblig. Er checkte seine Vorräte: zehn Packungen Kompaktration salzig, sechs Riegel Kompaktration süß. Beides scheußlich. Ab und zu fand er einen verwilderten Maulbeerbaum mit süßen Früchten, die dunkle Flecken an den Fingern hinterließen, oder stachelige Brombeersträucher. Einmal erschlug er vier

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