Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
Skorpione, die zu seinem Nachtlager kamen, und röstete sie in der Glut des Lagerfeuers. Sie schmeckten und reizten seinen Hunger. Wasserreinigungstabletten benutzte er noch nicht, er trank aus den Quellen das klare kalte Wasser, obwohl davon grundsätzlich abgeraten wurde. Sollte er sein Taschentelefon doch anschalten? Noch warten? Ich bin ein Narr, dachte er. Was soll das überhaupt? Was habe ich hier zu suchen?
    Auf der Halde standen Kühe. Deutlich zu sehen waren nur klapperdürre Schulterblätter und Hüften über dem hohen Nebel. Sie tauchten ihre Köpfe in den trüben, milchig grünen Grasfluss und ähnelten den Studenten, die in den ersten Stunden noch vor sich hin dämmern. Als täten sie nur so, dass sie weideten, als holten sie noch ein Stückchen Schlaf nach. Sollte er versuchen, eine schlafende Kuh zu melken?
    Er hörte einen schnellen russischen Fluch. Aus dem Bus zeigte sich ein junges stoppeliges Gesicht. John fuhr mit dem Zeigefinger über seine Wange (sich waschen und rasieren wäre auch bei ihm fällig, er musste nur zuerst den Russen loswerden). Der Russe sah wie ein Tourist aus. Er sah eigentlich wie John aus, nur hatte er einen Rucksack dabei, den John nicht hatte, weil alles in seine Überlebensweste passte. Aus dem Rucksack sah eine Decke hervor: mit verräterischen grün-orangen Streifen. Die von John war in der Rückentasche sicher verstaut. Der Russe sah John und blieb unbeeindruckt, als wären sie Passanten in einer belebten Straße. Er fragte in makellosem Englisch, ob er da lang (er zeigte nach unten) in die Stadt komme. Er sagte: in »die« Stadt. John würde auch so fragen: so tun, als hätte er sich nach einer Kneipentour verlaufen, als warte auf ihn ein surrender Ventilator in einem Hotelzimmer, und all das nicht weiter als drei oder vier Kilometer von hier.
    »Das wollte ich auch fragen«, sagte John, lächelte sein amerikanisches Lächeln und spannte den linken Oberarm an, um die beruhigende Härte des Brownings (den er vorschriftswidrig behalten hatte) zu spüren. »Genau das wollte ich fragen«, sagte er.
    Der Russe lächelte sein entwaffnendes Gagarin-Lächeln. Er war knabenhaft, ungeachtet seiner Stoppeln, Flüche und Muskeln, die sogar für einen gut trainierten Agenten bemerkenswert waren. Sie prüfen wohl gerade eine andere Altersgruppe. Wie aber ist es dem Major damals ergangen? Hat John mit seinem Streich die Forschung der Russen um Jahrzehnte zurückgeworfen? Es ging damals sowieso nichts mehr richtig bei den Russen, Geheimdienste waren nicht mehr nötig, der Staat zerfiel von alleine. John hatte sich von Anfang an vorgenommen, bei seinen Agentenspielen keine sich stark auswirkenden Aktionen zu unternehmen, und schmeichelte sich mit der Vorstellung, es würde ihm gelingen. Zumal niemand etwas von ihm verlangte, außer solche Sachen wie mit der Decke, die tatsächlich einem Spiel ähnelten. Die Geschichte mit dem Major, von der niemand außer ihm wusste, war seine einzige Eigeninitiative.
    »Ich schätze, weiter runter«, sagte der Russe. »Ich heiße übrigens Fabian, komme aus Bielefeld und mache Urlaub hier.«
    Klar. Der Russe konnte weder wissen, dass John den russischen Fluch verstanden hatte, noch dass John über die grün-orange Decke Bescheid wusste.
    »Ich heiße John, komme aus Bismarck, North Dakota, und habe meine Reisegruppe verloren«, sagte John.

    ♦

    Der Russe »Fabian« molk eine teilnahmslose Kuh, die Milch spritzte in eine zusammenfaltbare Plastikkanne, die der zusammenfaltbaren Plastikkanne aus Johns Ausrüstung sehr ähnlich war (wer hat wem das Modell geklaut?). John war klar, dass sie Kollegen waren, während der Russe »Fabian« ihn wahrscheinlich für einen störenden Touristen hielt (obwohl der Russe auch schon wissen sollte, dass sich diese Gegend momentan kaum für touristische Ziele anbot). Die euterwarme Milch tat gut. Interessant, dachte John, wird ihnen in ihren Agentenschulen Kuhmelken beigebracht, oder ist der Bursche in einer Kolchose aufgewachsen, was zu seinem zugleich groben und kindlichen Gesicht mit den abstehenden Ohren gut passen würde, schade, dass ich ihn nicht fragen kann.
    Sie gingen nach unten. Was oben war, wusste John bereits, nämlich Berge, Dickicht, Tempel und verlassene Dörfer. Die Ferne meldete sich mit einer Explosion.
    »Feuerwerk, sie feiern wohl wieder! Ein lustiges Völkchen«, sagte der Russe.
    Es war vielleicht doch an der Zeit, »bye« zu sagen und verschiedene Richtungen zu nehmen. John sah einen

Weitere Kostenlose Bücher