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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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wollte nur eines: den Schmerz los werden, wenn auch nur für eine Minute … er atmete tief und freudig ein und drückte mit Kraft und Wonne ab.« Vor weniger noch als hundert Jahren konnte man das »der Schmerz« nennen und es klang nicht lächerlich, dachte Andreas. Warum nun nicht, dachte er, soll es »Schmerz« heißen, egal. Er war so mit diesem Schmerz beschäftigt, dass sich der Schmerz von allen möglichen Ursachen trennte und in jedem ersten Augenblick des Erwachens so stark war, dass, hätte er eine Pistole unter seinem Kissen gehabt, er keine Sekunde gezögert hätte. Auch wenn er wusste, dass bald der beginnende Tag mit seinen laufenden Sorgen den Schmerz verscheuchen würde, dass er den ganzen Tag und die ganze Nacht nichts davon wissen würde, bis zum nächsten ersten Augenblick des Wachseins.
    Beim Kaffeekochen stellt er sich vor, dass jedesmal, wenn er an diesen Satz mit dem Abdrücken denkt, diese Kugel abgeschossen wird, und fragt sich, wohin sie denn dann fliegt, die Kugel.
    ANDREAS / MARINA
    Die schweigsame Tonja wurde nur beredt, wenn es um ihre Arbeit ging und wenn Pawel, der Redeführer der Freundschaft, nicht dabei war. Marina war sehr selten mit Tonja unter vier Augen und wunderte sich jedesmal über Tonjas schnelles und sicheres Sprechen.
    »Ok, ich kann choreographieren. Ich kann jedem professionellen Tänzer seinen Auftritt so inszenieren, dass er auf der Bühne als Genie dasteht. Solange ich dabei bleibe, ich meine, bei jeder Vorstellung. Aber er ist eher durchschnittlich. Ich glaube nicht, dass er nach drei oder vier Vorstellungen noch genauso gut sein wird. Schade, dass du nicht gesehen hast, wie das war.«
    Tonja sprach, als füllte sie die Leere, die sie fühlte, wenn Pawel nicht da war.
    »Ich habe ihm gesagt, dass er für die Rolle einige Bücher zu lesen hat. Ich habe sie ihm sogar gekauft, ich habe französische Übersetzungen gefunden. Kennst du ›Über das Marionettentheater‹ von Kleist? Es geht nur um ein paar Seiten. Als ich noch in der Ballettschule war, hat mir Pawel das vorgelesen. Ich weiß nicht, es muss wohl eine russische Übersetzung geben, aber er hat mir das einfach aus dem deutschen Buch übersetzt, vom Blatt, er wollte mich wohl beeindrucken, was ihm natürlich gelungen ist, wie immer, wie immer noch. Ich habe damals begriffen, dass mein Körper im Tanz von einer höheren Kraft besetzt ist, dass ich nur einen Punkt erspüren muss, von dem aus ihn diese Kraft führt. Das ist schwierig zu erklären, aber dieser kleine Text kann helfen, sich im Tanz zu verstehen. Ich lasse meine Schüler das ›Marionettentheater‹ lesen, manchen von ihnen gelingt es dann, sich auf der Bühne einfach führen zu lassen, man kann das auch Intuition nennen, erziehbare Eingebung.
    Und stell dir das vor: Ich komme zur Probe, er sitzt in der Ecke, anmutig über das Buch geneigt wie dieser kapitolinische Dornauszieher über seinen unsichtbaren Splitter! Ich habe ihn nie mit einem Buch gesehen. Ich habe keinen von ihnen dort je mit einem Buch gesehen. Ich bin entzückt, natürlich, und denke, er liest ›Über das Marionettentheater‹, und bin zärtlich wie eine Katze, die gerade einen Wellensittich gefressen hat. Und er – er liest ein Lehrbuch über Immobilienrecht! Ich sage: Mein Lieber, was lesen Sie da? Und weißt du, was er mir sagt? Die Tänzerlaufbahn sei sehr kurz, wir müssten uns für nachher vorbereiten. Also hat er sich an einer Business School eingeschrieben. Die Laufbahn ist kurz! Man muss auf der Bühne sterben, egal, was weiter kommt. Jedesmal sterben. Das Leben ist dazu da, dass man für etwas Unnützes stirbt. Ich sterbe jedes Mal mit diesen Idioten, um sie auf der Bühne von meinen Göttern führen zu lassen. Ich schlafe sogar mit ihnen, manchmal, wenn es anders nicht geht. Mit diesem auch. Und er tanzte am Ende wie ein Gott. Nur weiß ich nicht, wie lange er das allein schaffen wird.« Sie schwieg, während Marina immer noch staunte, wie viel sie sprach. Die schweigsame gelassene Tonja, die Ballerina. Dann sprach sie wieder: »Wenn ich übrigens tatsächlich bald sterbe, was wird dann aus Pawel, wir sind allein, Pawel ist ein Einzelkind und hat nicht einmal eine Nichte. Sogar wenn er eine hätte, was würde das helfen. Und mein Victor ist in Amerika. Jeder hat seinen eigenen Kram. Ich habe Angst um ihn.
    Ich habe einen Kanarienvogel im Herz.«
    »Was hast du?!«, sagte Marina erstaunt, weil sie sich daran gewöhnt hatte, dass es Pawel war, der jede Sekunde

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