Mörikes Schlüsselbein
Erzählungen über ihre Jugend und ihren Freundeskreis gesammelt und mit seiner eigenen Fantasie zusammengeklebt hatte.
Er wird in der Lade eines Schreibpultes, das Marina seinem Vater zum 50. Geburtstag auf einem Antikmarkt gekauft hat und das in Moritz’ Schreibzimmer neben der ihm von Marina geschenkten großen Pendeluhr stehen wird, einen uralten Memory Stick finden (er wird stolz sein, dieses Wort noch zu kennen) und in einer Werkstatt, wo sich jemand mit solchen historischen Dingen auskennen wird, die Inhalte herausnehmen und auf Papier abbilden lassen. Die Inhalte werden Vaters Tagebuch sein. Hauptsächlich Überlegungen zu seinen Buchprojekten. Manchmal aber auch irritierende Einträge: »Zum Teufel, alles zum Teufel, das elende Leben, das unbrauchbare Geschenk, das man weiterreicht, wozu, unverantwortlich. Das Elend ist unvermeidlich. Es gibt kein erfolgreiches Leben. Man tut irgendwann einen falschen Schritt, den man später als solchen nicht identifizieren kann, und das ganze Leben geht in die falsche Richtung. Man versucht das Leben, das eine kuriose Gestalt geworden ist, ein abscheuliches Fabeltier, durch Denken zurechtzuformen, wieder zu seiner ursprünglichen Anlage zu bringen. Doch durch das Denken wird alles noch schlimmer. ›In der Mitte des Lebens / Wird aus der Kuh ein Fabeltier, / das dich vorwurfsvoll anschaut‹, schrieb der arme F. S. in seinem letzten Gedicht, das M. über ihrem Schreibtisch befestigt hat – mit einer Stecknadel, deren Kopf wie ein Tropfen Blut aussieht und mich auf eine seltsame Weise beunruhigt.
Ich habe mir ein endlich ruhiges Leben mit M. erhofft. Aber … Dieses Ungeheuer ist nicht meine Frau.«
Moritz wird seufzen und sich fragen, ob er das Buch über den Vater lieber sein lassen sollte.
ANDREAS / MARINA
Er greift mit der Hand unter das Kissen, da ist nichts, nur die glatte Kühle des Stoffes. Das erstaunt ihn in der ersten Sekunde, so greifbar war das Bild der Pistole aus dem Traum.
Zwei Wolken im auch sonst trüben Himmel, dunkel wie ein Bluterguss auf alter Haut. Er hat überhaupt keine Lust aufzustehen. Er hat Lust auf eine Pistole unter dem Kissen. Mit Kraft und Wonne.
Telefon. Marinas Stimme (wieder irgendwelche dummen Geschichten von irgendwelchen dummen Kulturidioten, denkt er): »Ich gehe nach Berlin. Ich meine: ganz. Ich miete das Zimmer nicht mehr, zumal mir das Laura vermittelt hat, das ist dumm, ich kann genauso gut in Berlin wohnen, ich dachte, du wärest öfter und länger in Petersburg, aber so gibt es keinen Grund, in Frankfurt zu bleiben, ich habe mit Frau Elegien gesprochen, sie meint das auch. Und mein Fahrrad wurde mir auch gestohlen. Ich rufe später an, ich muss jetzt zu einer Sitzung.«
Als Andreas den Hörer ablegt, notiert er ein mögliches Thema für eine Ringvorlesung: »Darstellung des Selbstmords bei russischen Autoren vor, während und nach der klassischen Moderne«, und freut sich an dieser angenehmen Unruhe, die er immer fühlt, wenn ihm ein neues Thema einfällt.
ANDREAS / MARINA / MORITZ
Die nächste Notiz, ein paar Tage später als die mit dem Ungeheuer, wird diese sein:
»›… er atmete tief und freudig ein und drückte mit Kraft und Wonne ab‹ (Iw. Bunin. ›Mitjas Liebe‹). Es wäre richtig und gerecht, wenn Selbstmörder die Zeit, die sie nicht nützen, den anderen gäben. Kann sein, dass diese Regel einige von ihnen vom Selbstmord abbringen würde, sie würden es sich wahrscheinlich anders überlegen, ehe sie die Kostbarkeit verschenken.«
Moritz wird es nun wieder wollen: über Andreas schreiben. Wie viel Zeit habe ich eigentlich?, wird er denken. »Typisch Kinder, das Werk über den eigenen Vater wird auf kurz vor Torschluss aufgeschoben«, Moritz wird das Buch mit diesem traurigen Witz beginnen.
ANDREAS / MARINA
Marina war es gewöhnt, in Andreas’ Schlafzimmer (sie nannte es immer noch so, nicht »unser Schlafzimmer«, ihr Schlafzimmer war in Petersburg, freilich ohne sie) zu erwachen und aus dem Bett den Berliner Himmel zu betrachten. Als sie zum ersten Mal in diesem Bett wach wurde (sich fragend, ob sie, Andreas und sie – hätten sie sich damals, vor zwanzig Jahren, nicht getrennt – ob sie all diese zwanzig Jahre zusammen geblieben wären), sah sie zwei beige-rosa Wolken auf dem verwaschenen Blau über dem Mariannenplatz und schlief wieder ein. Beim zweiten Erwachen war der Himmel himmelblau, die Wolken wolkenweiß. Beim dritten und endgültigen Erwachen: der Himmel graublau, die Wolken verwaschen
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