Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
Hinter-allen-Bergen-Ländern ihre patriarchalischen Atavismen hatten: »Stell dir vor, gestern habe ich bei einem Empfang mit einem Autor sprechen wollen, weil Frau Elegien sein Buch eventuell auf die Liste der durch unseren Fonds finanzierten Übersetzungsprojekte aufnehmen möchte. Und jedes Mal, wenn ich versuchte, ihn anzulächeln und ein Gespräch anzufangen, wich er irgendwie aus. Gut, ich dachte, das wäre ein Zufall. Vor dem Einschlafen habe ich dann in seinem Buch geblättert: Er beschwert sich, dass vierzigjährige Frauen sich wie zwanzigjährige benehmen. Was meint er? Inwiefern benehmen sie sich wie Zwanzigjährige? Sind sie so dreist, ihn freundlich anzulächeln und ein Gespräch mit ihm anfangen zu wollen? So ein Idiot!«
    Tonja, (ungewiss um wie viele Jahre) älter als Marina und eine zeitlose Schönheit, wie es nur eine Ballerina sein kann, schwieg und lächelte.
    »Komm«, sagte Marina, »ich lasse mein Fahrrad bis morgen hier, ich zeige dir die Stadt, da drüben ist ein Chinesischer Garten, sie haben dieselben Wächterlöwen, die Shíshī, wie unsere an der Newa.«
    ANDREAS / MARINA
    Er erwacht und staunt, wie er jeden Morgen staunt, dass es so freudlos ist, zu erwachen. Tagsüber lässt ihn das alltägliche Treiben meistens vergessen, was ihm der klare Morgen vor Augen führt. Und vor dem Einschlafen und nach dem Glas Wein ist er zu müde, um zu denken und zu fühlen. So wird er jeden Morgen aufs Neue unangenehm überrascht.
    8. Marina. Das Ungeheuer vertrieb er so: Es stand vor dem Spiegel und sprach und sprach und sprach und sah in den Spiegel. Zu wem sprach es? Zu sich selbst? Wen hat es im Spiegel gesehen? Hat es dort Marina gesehen? Hat das Ungeheuer seine empörten Monologe an Marina gerichtet, die es in der Wohnung nicht mehr gab (aber im Spiegel vielleicht)? Auf jeden Fall verstummte es prompt, als sich Andreas zwischen es und den Spiegel stellte. Es lächelte fast verlegen und nahm mühsam wieder Marinas Züge an.
    9. Der Mangel an Kindern auf der Welt. Immer mehr Menschen. Immer weniger Kinder. Seine zwei werden von zu vielen Erwachsenen beansprucht. Sabine und Frank. Er und Marina. Und eine unbestimmte Zahl von Verwandten, die keine, bzw. schon zu erwachsene (bereits alternde) Kinder haben, die ihrerseits ebenfalls seine zwei für sich beanspruchen.
    10. Seine Mutter.
    11. Atemnot. Angst. Unruhe.
    12. Sein Buch, das immer weniger mit der ursprünglichen Anlage zu tun hat. Besser gesagt: Er verliert allmählich das Interesse an der ursprünglichen Anlage.
    Er überlegt sich ein Kapitel – das dem Buch eine neue Wende gäbe, im Klartext: er muss das Buch wieder umschreiben – über Fjodor Stern und seine deutschen Wurzeln. Natascha, Fjodors Frau (seine Witwe, ist das nicht unsinnig, dieses Mädchen, das immer noch wie ein Kind aussieht, Witwe zu nennen?), ist jetzt mit Fjodors Archiv und seiner Werkausgabe beschäftigt. Marina sagt, sie hätte nie gedacht, dass sich Natascha als ein so kluges und ordentliches Wesen erweisen würde. Für Andreas hatte sie einige Papiere kopiert, die sie zu Hause oder auch in den städtischen Archiven gefunden hatte. Sie wollte die Geschichte von Fjodors Familie, die ihn selbst nie besonders interessiert hatte, rekonstruieren. In einem Archiv fand sie ein Gesuch seines Urgroßvaters an den Zaren. Er wollte zu Beginn des Ersten Weltkrieges seinen deutschen Namen ( von Stern ) ablegen und einen russischen annehmen (er hat sich einen ähnlichen gewählt: Sternin ). Es sei ihm, der er seiner Majestät und dem Vaterland zutiefst ergeben sei, unerträglich, einen deutschen Namen zu tragen und seine echten Landsleute damit in die Irre zu führen, denn seine Familie diene seit Generationen dem russischen Reich. Er fühle sich nicht nur als Russe, er sei ja auch tatsächlich ein Russe, und den Namen empfinde er daher als völlig unpassend. Das Gesuch wurde abgelehnt. Andreas würde gerne wissen, warum, ob es einen Grund dafür gab, während Hunderte von solchen Gesuchen genehmigt wurden. Auch die Stadt St. Petersburg bekam einen russischen Namen (Petrograd), sogar ohne darum zu bitten. Hätte die Stadt ein Gesuch verfasst, könnte es ungefähr so lauten: Ihre Kaiserliche Majestät, Allgnädigster Herr, da ich mich dank meiner Gründung durch Ihren Großen Ahnen, Peter den Großen, als ausschließlich russische Stadt verstehe und nichts gemeinsam haben will mit den feindlichen germanischen Horden, bitte ich das Missverständnis meines Namens zu korrigieren. Noch

Weitere Kostenlose Bücher