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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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zehn Jahre später erging es der Stadt noch merkwürdiger, sie wurde zu Leningrad. Doch Fjodors Urgroßvater blieb auch zehn Jahre später Stern, nur ohne » von «. Bei Fjodor deutete nichts auf eine deutsche Herkunft, außer dem Namen. Als Kind musste er wohl einige Stunden Deutsch-Unterricht gehabt haben, von denen nur ein paar Gedichtzeilen in seinem Gedächtnis geblieben waren, die er manchmal mit sehr starkem Akzent rezitierte. Allerdings fand Natascha einen Notizblock mit der gestickten Aufschriftauf dem abgewetzten seidenen Deckel, in den Fjodors Großmutter ihre auf Deutsch geschriebenen Gedichte notiert hatte (Ich ging über eine Frühlingswiese / Und war erwartungsvoll wie diese) , dazwischen getrocknete Vergissmeinnicht und Maiglöckchen und eine braune Locke.
    Und überhaupt: Er möchte nicht mehr über das Bild der Deutschen in der russischen Literatur, sondern eher über das Selbstbild der Deutschen in Russland schreiben.
    Er öffnete die Augen. Zwei krause Wolken standen im grauen Himmel. Trotz Himmelsgrau war das heute Morgen halb so schlimm. Unruhe, Atemnot und Angst wichen den Gedanken an das Buch, und der Tag begann.
    ANDREAS / MARINA
    Eine Krähe schaukelte im Zwielicht über dem Main. Sie wartete auf eine kräftige Windwelle und ließ sich von ihr tragen. Wieder und wieder. Es dunkelte schnell.
    Marina erzählte Tonja, dass sie den Main am Abend wegen der langgedehnten vertikalen Lichter von überall und nirgendwo liebte, wegen der leuchtenden Brückenbogen in der tintenfarbenen Luft und im unsichtbaren Wasser. Wegen der winterlich gestutzten Platanen mit den in die vier Himmelsrichtungen gerichteten Fäusten. Sie mochte den gemachten Zauber des tüchtigen Westens, der für jede einzelne Lichtquelle messbar war: wieviel Arbeit und wieviel Geld dafür aufgewandt wurden. Nicht dass in Petersburg kein Geld und keine Arbeit hineingesteckt wurden. Sehr viel sogar. Peter der Große verschwendete geradezu ausgiebig Menschenleben, die Stadt ist auf Menschengebeinen gebaut, hieß es in den Geschichtsbüchern. Aber es gab dort noch einen irrationalen Rest, das nicht gemachte Licht, der Zauber unklarer Herkunft. Tonja lächelte und zuckte vor Kälte. Sie gingen nach Hause. Die Krähe wurde in der Dunkelheit unsichtbar.
    Marina wohnte in einem untervermieteten Zimmer in einer WG (von Laura vermittelt, die Marina unabhängig von Andreas ein bisschen kannte), dessen eigentliche Bewohnerin mit einem Autorenstipendium ausgezeichnet worden war, das mit einem Jahresaufenthalt in einem entlegenen nördlichen Dorf verbunden war. Hohe Wände, zugebaut mit Bücherregalen, ein Hängeboden als Schlafplatz, ein großer runder Tisch in der Mitte, auf dem Marina ein Abendessen servierte: grüner Salat und Forelle, weil Tonja fast nie etwas außer grünen Blättern und bleichen Wasserbewohnern aß; Rotwein in einem Dekanter und zwei große Gläser. Marina war seit ihrer frühen Jugend von Fjodors Weinlehre beeindruckt. Wenn sie sich irgendwo für länger als zwei Wochen ansiedelte, kaufte sie eine Flasche guten Wein und wartete, bis jemand zu Besuch kam (als Fjodor noch lebte, schickte sie ihm aus dem Laden eine SMS und fragte, ob der Wein gut sei, meistens antwortete Fjodor mit »nein«, obwohl er behauptete, dass es wirklich schlechte Weine äußerst selten gebe). Diesmal war der ungetrunkene Wein ein Amarone, von dem man nie sagen kann, ob er schwer oder leicht, süß oder herb, rund oder kantig ist, ob er ein Freund oder ein zufälliger Weggefährte ist (was Fjodor damit meinte, war unklar und jetzt unklar für immer), und er war ein zusätzlicher Grund, warum sie sich über Tonjas Besuch so freute, die zwar nur Wasser trank, ihr aber Gesellschaft leistete.
    ANDREAS / MARINA
    »… er atmete tief und freudig ein und drückte mit Kraft und Wonne ab«, sagte Andreas laut (statt »Dieses Ungeheuer ist nicht meine Frau« zu sagen, weil dieser Satz langsam seine ätzende und aufregende Wirkung verlor) den Schlusssatz einer russischen Novelle.
    Seine Unruhe und Melancholie waren fast physisch, er spürte sie, hatte aber keinen Namen für sie, keiner hat etwas Trefflicheres als »Schmerz« gefunden, auch Iwan Bunin, dessen Satz ihm beim Aufwachen einfiel, nennt das Schmerz, bevor er seinen armen Mitja, den Namenshelden der Novelle, schießen lässt: »… und er weinte leise vom Schmerz, der seine Brust zerriss. Dieser Schmerz war so stark, so unerträglich, dass er nicht daran dachte, was er tat, was daraus folgen konnte, er

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