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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Flachmann mit dem durch die Wassertabletten desinfizierten Wasser und tränkt den schwächeren (Kalaschnikows und Messer schiebt er zuerst zur Seite). Eine Schockwelle wirft ihn rücklings auf den Boden. Schon im Liegen begreift er, dass das ein Lasso ist, das ihn zu Boden zwingt. Etwas Weiches und Stickiges bedeckt sein Gesicht. Argus schließt und öffnet seine tausendschönen Augen: die dunklen Sterne am hohen Taghimmel über der namenlosen Lichtung.

    ♦

    John wurde mitten in dem Zwitschern, Schnalzen und Pfeifen wach. Das erste, was er wahrnahm, war Hunger. Er öffnete die Augen: Er saß an einem Baumstamm am Rande eines Dorfplatzes. Sein Magen meldete Hunger in einer ihm unbekannten Stärke. Er bewegte seine Hände und Füße, Arme und Beine – er war nicht gefesselt und wahrscheinlich nicht verletzt. Seine Weste hatte er an. Er tastete nach den Taschen, alles war da. Sogar der Browning unter dem linken Oberarm war zu spüren. Strohdachhäuschen im Kreis. Kleinwüchsige Ziegen. Hühner, mächtig wie tüchtig aufgeschüttelte Kissen. Den zwei Jungen auf der Lichtung ähnliche Menschen. Nur hatten sie keine Uniform, sondern lockere Kleidung aus weichen Stoffen, als hätten sie sich zu einer Cocktailmatinée versammelt. Ein älterer Mann ( ich schätze alle älter als mich, dann schaue ich in den Spiegel und alle sind plötzlich jünger als ich , dachte John, der nach der Betäubung noch etwas verwirrt war) fragte ihn auf Russisch, ob er Hunger habe. John unterdrückte den Schluckreflex und überlegte, ob er verraten sollte, dass er des Russischen mächtig war. Der Mann schnalzte und pfiff einem anderen Mann, der John auf Englisch fragte, ob er Hunger habe. Das fand John schon lustig und schwieg weiter, wenn auch gegen den schneidenden Anspruch seines Magens. Den zweiten Mann löste einer mit derselben Frage auf Deutsch ab. Dann kam jemand mit, John riet, Chinesisch (wo bist du jetzt, Jennifer?). Dem folgte einer mit einer nach nichts Bekanntem klingenden Sprache. Dann kam einer mit Französisch, dann einer mit Spanisch, dann einer mit vielleicht Arabisch. Gut , dachte John, das nächste Mal werde ich einfach nicken und bekomme wahrscheinlich etwas zu essen . Da aber wurde er allein gelassen.

    ♦

    Sie sangen und pfiffen ihre Sprache und niemand außer den acht Sprachkundigen und deren jeweils einem Lehrling konnte auch nur ein Wort in einer anderen Sprache. Nicht einmal »Ok« oder »Coca Cola«. John konnte nicht sagen, wie lange er schon hier war, die Tage und die Nächte glichen einander.
    Nachdem er sich am ersten Tag letztendlich doch für seine Muttersprache entschieden hatte, führte man ihn in eine Strohdachrotunde. Im hellen Raum sah John den Russen auf einem Bastkissen sitzen und sich mit dem entsprechenden Sprachkundigen auf Deutsch unterhalten. John beglückwünschte sich, dass er nicht Russisch gewählt hatte. Das hätte die ohnehin seltsame Situation noch verkompliziert. Nachdem John eine Schüssel safrangelben Reis gegessen hatte, flüsterte ihm der Russe »Fabian« zu, dass ihre »Gastgeber« in die Betäubungsmittel auch hungererregende Substanzen täten, damit der Befragte dann auf eine entsprechende Frage sofort reagierte. John, der noch nicht wusste, wie schnell der Russe seine Theorien erdichtete, lobte sich für seine Standhaftigkeit. Dann schämte er sich dieser Genugtuung und der ganzen Situation. Was suchte er hier überhaupt, er sollte dringend nach Petersburg, kurz vor seiner Reise in der grün-orangen Decke hatte ihn Natascha angerufen: Es gehe Fjodor sehr schlecht, die Ärzte sagten, man müsse bereit sein. Natascha hatte gestockt und geweint. John hatte gesagt: »Ich kann jetzt nicht sprechen, ich rufe zurück, sobald ich kann.« Wie lange ist das her? Ob Fjodor noch lebt? Er schämte sich, dass er, wie immer schon in seinem Leben, seiner Abenteurernatur nachgegeben hatte, ohne an Konsequenzen zu denken. Er könnte schon längst zurück sein. Er dachte an den blauen Arguskopf im Gras. Himmelsfasan, schau mit deinen unzähligen Sternenaugen, ob mein Freund in Petersburg an der Newa noch da ist.

    ♦

    »Bin ich ein Gefangener?« fragte John.
    »Nein«, sagte sein Sprachkundiger, »wir wissen nicht, wie Sie zu uns gelangt sind, das sollte eigentlich nicht sein.« Er goss John immer nur ein Viertel des Schälchens ein, so kühlte der Tee einerseits schneller ab, andererseits wurde er nicht zu kalt, bis man ihn austrank. Ein Rhythmus aus Trinken und Nachgießen, der John gefangen

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