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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Seitenpfad, sagte dem Russen, dass er es hier lang versuchen würde, und ging schnell in einen dampfenden Wald, der aus ihm unbekannten Pflanzen bestand. Eine grüne Schlange war um einen kahlen Ast gewickelt wie ein Schal um den dünnen Hals eines erkälteten Clochards.

    ♦

    Er trat so unverhofft aus dem Dickicht, und die Lichtung war so hell, dass sich seine Augen erst an das Licht gewöhnen mussten. Statt der Frische, die sich einer, der aus dem sumpfigen und dampfenden Wald kommt, von einer Lichtung wünschen durfte, erwartete ihn hier ein Gestank, der in seiner Widerlichkeit nur von einem leidenden Menschen kommen konnte. Dann sah er sie, die beiden Soldaten:
    Ihre Uniform ist über den Tarnflecken mit einer zweiten Befleckungsschicht bedeckt, aus Blut und Dreck. Sie liegen auf dem Rücken und schauen unbeweglich in den hohen Himmel. Der eine, der etwas mehr Kraft zu haben scheint als sein Kamerad, greift nach seiner Kalaschnikow (was John, der sehr gerne wissen würde, wo er sich befindet, nicht weiter hilft, Kalaschnikows gibt es überall). Der Soldat ist zu schwach, die Kalaschnikow fällt mit einem weichen »Plumps« auf den feuchten Boden.
    Die Jungs haben dünne Körper und blasse, aber dunkle Gesichter mit Lippen, die heller sind als die Wangen, wie man es auf Schmerzensmannbildern sieht. Er hofft, sie verstünden Englisch, und versucht es dann mit Russisch und Französisch. Vergeblich. Ihre hohen Wangenknochen und schmalen Augen lassen John an die Fuchsfee Jennifer mit ihren chinesischen Gedichten denken. Vielleicht versucht die arme Jennifer jetzt in einem sibirischen Dorf sich nach dem Weg zur nächsten großen Stadt zu erkundigen. Doch China kann das nicht sein, es gibt in China momentan kein Kriegsgeschehen. Es bleibt von der ganzen wahrnehmbaren Welt nur Hitze und Gestank übrig, bis ein Geräusch der stehengebliebenen Zeit einen Stoß gibt:
    Ein riesiger Vogel schlug mit einem Flügel und konnte sich sonst nicht bewegen.
    John kannte den Vogel. Es war ein Argusfasan mit von goldenen Augen übersäten staubfarbenen Flügelfedern und einem blauen Kopf. Eine dezente Variante des Pfaus. Als der Herrgott ihn erschuf, hatte er eine Schwarzweißkamera und konnte seine Fotos nur ein wenig per Hand colorieren. Als der Herrgott über eine Farbkamera verfügte, machte er als erstes aus dem Argusfasan einen Pfau, zur Probe. Der Ornithologe, der den Vogel benannte, wusste wohl nicht, dass die Alten diese Idee bereits verbraucht hatten: Die Sternhimmelaugen des getöteten Titanen Argos wurden von der Göttin Hera dem Pfau geschenkt. Diese Verdoppelung des Argus im Vogelreich beschäftigte John als Kind, als er eine Weile Ornithologe werden wollte. Sein Biologielehrer erzählte außerdem, dass Charles Darwin von der Pracht dieses Vogels irritiert war, von dem beunruhigenden Fehlen von Zusammenhängen zwischen der Schönheit und den Vorteilen bei der natürlichen Auslese. Einen lebenden Argusfasan hatte er nie zuvor gesehen, nur ausgestopft in einem Museum. Dieses Exemplar wurde später von einem Naturschützer vernichtet, aus Protest gegen Tierpräparation. John sah das Tier und dachte, dass nun die ganze Reise sich gelohnt hatte. Dann dachte er, dass dieser verletzte, staubige Sternenhimmel gut schmecken sollte. Der erste Gedanke war der eines begeisterten Jungen, der zweite der eines hungrigen Mannes. Es waren wahrscheinlich die Soldaten, die ihn angeschossen hatten. John zog seinen Browning und schoss nach. Der blaue Vogelkopf zuckte und blieb im Gras liegen wie eine blaue Blume.
    Der zweite Junge fängt an zu sprechen, schnell und mit ekstatischem Lächeln. John versucht zu raten, welche Sprache das ist: ein empörtes Zwitschern; ein klagendes Schnalzen; ein selbstvergessenes Pfeifen. Die Soldaten sind nicht älter als Johns Neffen, was schwer zu begreifen ist. Kinder mit dunklen Gesichtern, die verblasst fast fliederblau wirken. Verwirrend schön und verwirrend stinkig. Der Krieg eines einzelnen Soldaten ist der Krieg gegen das eigene Elend. Hunger. Insekten. Durst. Das eigentliche Schlachtfeld ist der eigene Körper. Unter seiner Uniform ist auch er ein Zivilist und will nicht verstehen, dass der Tod eines uniformierten Kindes weniger bedeuten sein soll als der Tod eines Kindes in Jeans und T-Shirt.
    Seine Feldflasche ist voll. Als erstes könnte er den Jungs Wasser geben. Ansteckungsgefahr? Was wäre ansteckend? Schusswunden? Krieg? Jugend? Dreck? Schönheit? Schweres Schuhwerk? Er nimmt seinen zweiten

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