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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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hielt.
    »Haben nicht Ihre Leute mich betäubt und hierher gebracht?«, fragte er, der davon überzeugt war. Auch der Russe, der falsche Deutsche, der »Fabian«, mit dem er eine Hütte teilte, glaubte das. Sie schaukelten in schlaflosen Nächten in ihren Hängematten über dem Lehmboden und entwickelten Pläne, wie sie von hier wegkommen könnten. Niemand hatte sie gezwungen zu bleiben, aber so oft sie versucht hatten zu gehen, so oft kehrten sie auf unerklärliche Weise zurück zum Platz mit den Strohdachhäuschen im Kreis.
    Der Sprachkundige goss ihm salzigen, mit Ziegenbutter gesättigten Tee nach. Immer nur für ein paar Schlucke. So saßen sie und sprachen jeden Tag, und John schaffte es nicht, das Gespräch weiterzuziehen, über die kreisenden Erzählungen des Sprachkundigen hinaus.
    Wenn nachts John und der Russe das verglichen, was sie von ihren Sprachkundigen jeweils erzählt bekommen hatten, stimmte alles überein. Der Russe allerdings glaubte kein Wort und entwickelte immer neue Theorien (wie die mit der hungererregenden Betäubung). Er wollte nicht glauben, dass dieses Volk von der Außenwelt tatsächlich hermetisch abgeschottet war: »Schau, wenn sie so abgeschieden leben, wenn sie, wie sie behaupten, einen anderen Zeitvektor verfolgen, was auch immer das heißen soll, wie ist das zu erklären, dass sie überall PCs haben? Und Internet? Und was soll das: sie wollen die Elektrizität mit im Kreis laufenden Eseln generiert haben?! Für wie blöd halten sie uns?!«
    In der zweiten Hälfte der Nacht fauchten und trappelten kleine Tiere unter den Hängematten. John träumte von Füchsen. Nach Monduntergang zog ihn sanft eine Hand, bis er von der Hängematte sprang. Er folgte einer leichtfüßigen Frau einen Bach entlang. Sie machte ihre Zöpfe im Gehen auf. Der Wind versuchte vergeblich, Schilf in die Zöpfe zu flechten. Eine Rohrdommel hupte tief und mächtig. Hätte John ihre Stimme nicht gekannt, hätte er gedacht, ein unsichtbarer Dampfer komme den Bach herunter. Die Frau huschte in eine Hütte, die auch er betrat, nachdem er in den Bach gepinkelt hatte. Als er vor dem Abschied die leichte Hand küsste, fühlten seine Lippen zuerst die Kälte der Nägel und erst dann die Wärme der Finger. Zurück fand er von alleine. Im verzwiebelten Zwielicht sah er die leere Hängematte des Russen, der immer erst zurückkam, wenn John schon eingeschlafen war. Er erwachte bei Sonnenlicht und ging seinen Sprachkundigen unterhalten.

    ♦

    Nach den Nachtgesprächen mit dem Russen, der John immer kindlicher vorkam, versuchte er seine rätselhafte Benommenheit zu überwinden und dem Sprachkundigen, der mit sichtbarem Vergnügen die Gelegenheit nutzte, Englisch zu sprechen, gescheite Fragen zu stellen:
    »Wie bedienen ihre Leute PC und Internet, wenn niemand außer sechzehn Eingeweihten die Sprachen kann«, fragte John seinen Sprachkundigen.
    Sie saßen in demselben runden Raum, der zwar eine niedrige Decke, aber viele große Fenster hatte und sehr hell war. Eine Fliege warf sich hin und her zwischen zwei gegenüberliegenden Fenstern, stieß klangvoll gegen eine Scheibe und flog sofort zu dem Glas vis-à-vis: ein knurrender Tennisball, der sich von selbst in Bewegung setzt. John dachte mit großer Sehnsucht an Tennisbälle und an alles, was dazu gehörte: Spielplatz, Campus, Kollegen und Studenten, sogar an die Sekretärin, die siebzehn und vier mit einem Taschenrechner addierte.
    »Wir haben ein internes Netz, wir laden Informationen auf den eigenen Server, in einem Kristallkeller. Die Inhalte laden wir von Ihrem WWW runter. Also wir, die sechzehn, machen das. Wir haben alles angepasst. Die ganze Technik bleibt auf Ihrem Niveau. Wir haben einen Weg gefunden, wie wir von Ihren Entdeckungen profitieren können – ohne uns Ihrem Entwicklungsmuster zu unterwerfen. Das, was Sie machen, hat zwar gute Seiten, ist aber zu oft voreilig und zu vielen Zufällen überlassen. Und stolpert immer wieder über katastrophale Ereignisse. Wir versuchen es anders. Eigentlich dasselbe, aber anders.«
    » Was versuchen Sie?«
    Der Sprachkundige schwieg und goss dicken salzigen Tee nach.
    »Sind Ihre Leute denn nicht neugierig auf das, was da alles geschrieben und gesprochen wird, im Netz, im Fernseher? Ich meine das, was Sie nicht übersetzen?«
    Darauf erzählte der Sprachkundige, dass sein Volk freiwillig auf jeden Informationsaustausch mit der Außenwelt verzichte, nur die sechzehn würden dadurch kontaminiert. Die anderen wollen nicht vom

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