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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Ziel abgelenkt werden. Was das aber sein soll, dieses Ziel, diese andere Entwicklung, das sei ein Geheimnis, das der Sprachkundige nicht aufdecken dürfe.
    »Vielleicht«, sagte er nur, »kommen wir zum gleichen Ergebnis, aber schneller und mit weniger Verlusten. Das ist freiwillig. Jeder kann jederzeit nach draußen, und jeder kann jederzeit zu uns. Jenseits unseres Gebiets gibt es die nicht gesicherte Information, also Gerüchte, dass es uns gibt. Wer will und sich interessiert, ist willkommen.«

    ♦

    Nachts sagte der Russe: »Halten sie uns für bekloppt?«
    John bewunderte die Willensstärke des Russen, dem kein einziger russischer Fluch entkam, und fragte am nächsten Tag seinen Sprachkundigen:
    »Und wenn sie hierher kommen? Alle können doch irgendwelche Sprachen, wieso spielen Sie denn dann, dass niemand außer den Auserwählten die Sprachen kann?«
    »So einfach ist das nicht. Sie kommen über eine Schleuse, die das Gedächtnismuster umformt, so dass nur die Muttersprache bleibt. Wenn jemand zurückwill, bekommt er wieder alles, was er hatte. Wir könnten auch einrichten, dass er einiges (oder alles), was er hier gesehen hat, vergisst, machen wir aber nicht. Das wäre unfair. Und sinnlos. Jeder darf von uns wissen. Beweisen kann man sowieso nichts. Falls jemand zu uns will, erfahren wir das und ›organisieren die Reise‹. Sozusagen. Wie gesagt, in der Außenwelt ist das eine nicht gesicherte Information, ein Gerücht. Ein offenes Geheimnis.«
    John hatte einmal an einem Gedächtnis-Experiment teilgenommen, das dem von dem Sprachkundigen beschriebenen Verfahren ähnelte. Dem Sprachkundigen erzählte er das aber nicht.
    »Aber wozu das Ganze? Was ist bei Ihnen so anders, was ist besser? Im Ernst. Sie haben den gleichen Mist wie die anderen. Sie haben Arme, die für die Reichen die schmutzige Arbeit erledigen. Sie lassen Ihre Frauen zu Ihren Gefangenen kommen und sie bedienen.«
    Der sonst immer milde und ruhige Sprachkundige unterbrach John mit plötzlicher Entrüstung: »Wie können Sie nur, was getrauen Sie sich!? Das machen diese Frauen von sich aus. Ohne Aufforderung. Sie wollen mit Ihnen Kinder zeugen. Wir leben zu eng zusammen hier, wir sind zu wenige, sie hoffen auf starke Kinder, die anders sein werden und auf andere Weise klug und schön.«
    John wollte mehr über die Frau mit den kalten Fingernägeln und warmen Fingerkuppen erfahren, die wahrscheinlich die Mutter seines Kindes würde. Er konnte sich aber nicht von der davor angefangenen Rede abbringen:
    »Sie manipulieren das Gedächtnis derer, die freiwillig zu Ihnen kommen. Sie haben Krankheiten und Streitereien. Sie sterben. Was genau wollen Sie erreichen?«
    »Das darf ich Ihnen nicht sagen. Nur, dass jedem Volk seine eigene Zeit in die Wiege gelegt wurde, mit je anderer Geschwindigkeit, anderer Dichte, mit anderen Variationsmöglichkeiten. Sie aber lenken die Zeit so, dass sie für alle gleich wird. Irgendwann wird das gut so sein. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf diesem Weg. Aber Sie schaffen das unter Anwendung von zu viel Gewalt. Wir hingegen geben den anderen Zeitvektoren auch ihre Chance. Und sagen Sie mir bitte nicht, dass die Zeit ein Skalar ist.«
    Das hatte John gar nicht vor.
    »Die Zeit ist sehr wohl ein Vektor.«
    »Von mir aus«, sagte John und fragte sich, was der Russe dazu sagen würde. (»Vektor! Dass ich nicht lache«, wird der Russe später dazu sagen.)
    »Lassen wir das«, sagte der Sprachkundige. »Ich habe ohnehin schon zu viel gesagt. Was ich aber sehr gerne wissen würde: Wie sind Sie und Ihr Freund – Sie haben sich doch früher gekannt? – hier hineingeraten?«

    ♦

    »Das ist alles Unsinn mit der Zeit«, sagte der Russe. »Sie wollen nicht einmal, dass wir diesen Quatsch ernst nehmen. Sie erzählen uns bloß Märchen, um uns in die Irre zu führen.«
    John, der genau hätte sagen können, welcher russische Fluch anstelle welches »Unsinn« oder »Quatsch« hätte ausgestoßen werden sollen, bewunderte den Russen wieder und fragte ihn, was er längst fragen wollte: wie er hierher geraten war.
    »Na gut, ich ging damals gleich nach unten und das war der richtige Weg. Und du? Als ich endlich mein Hotel gefunden hatte und mich duschen und dann schlafen wollte, waren plötzlich die Soldaten da, mit Scheinwerfern, Megafonen und affenähnlichen Hunden. Sie haben befohlen, dass alle in eine Scheune hinter dem Schwimmbad kommen sollten. Falls wir von hier heil davonkommen, werde ich jetzt nur mehr in die Schweiz in

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