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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Vater nicht, weil er in seinen Zuständen versunken und nicht wirklich ansprechbar war. Vielleicht Marina, die er heute Nachmittag sehen wird? Aber sie würde dann mit ihrer Hyperaktivität gleich zu viel unternehmen, was dann später allen Beteiligten peinlich wäre. Er rief Marina trotzdem an, sagte aber nichts, fragte nur, ob sie endlich etwas über Mörikes Schlüsselbein erfahren hatte.
    Dann rief ihn Franziskas Freund an und fragte, ob sich Franziska gemeldet habe. Martin gefiel ihm nicht. Er war zu munter. Er war zu schön. Moritz hatte ihn ein paar Mal in Gegenwart anderer Mädchen gesehen.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    »Danke, Marina, Frank hat gesagt, du warst klasse! Das Honorar wurde schon überwiesen. Wie war es?«, sagte Sabine. In der Firma, in der Frank arbeitete, hatte es ein wichtiges Treffen mit den Russen gegeben, deren Dolmetscherin plötzlich krank geworden war. Eine Dolmetscherin aus einer Vermittlungsagentur wollte man nicht. »Marina, es ist mir unendlich peinlich, dass es so kurzfristig ist, aber Frank fragt, ob du einspringen könntest? Sie zahlen das Doppelte und würden dich abholen und zurückbringen, und …«, hatte Sabine vorgestern am Telefon gefragt. Marina sagte zu. Ihre Arbeit im Kulturfonds wurde zwar nicht besonders hoch bezahlt, ließ ihr aber Zeit, um hin und wieder ein Zubrot zu verdienen (was wiederum zu häufiger Zeitnot führte und sie noch stärker von Andreas und von dem Buch über Daniil Charms, das sie angefangen hatte zu schreiben, ablenkte). Sabine, die kaum etwas von der Arbeit ihres Mannes wusste, war jetzt neugierig: »Wie war es?«
    Es war ein komfortabler Ausflug in die Hölle. Die Hölle war rund, breit, tief, hohl und unbewohnt. Wenn du oben am Geländer standest und nach unten schautest und daran dachtest, dass ein fallen gelassener Gegenstand nie bis ganz unten kommen würde, sondern unterwegs zergehen, strömte unsichtbarer Höllendampf dir entgegen.
    »NICHTS BERÜHREN!« schrie der Vergil im Blaumann ab und zu. Alle hatten Höllenschutz an: Folienschuhe und -handschuhe, Blaumänner, Helme. Die ganze Höllenmaschinerie war vor Jahren von hier entfernt worden. Blieb nur die Reaktorhülle, deren riesigen hohlen Bauch sie von innen umkreisten. Manchmal holte der Vergil den Geigerzähler aus der Blaumanntasche und schüttelte den Kopf. Als die Besucher die Schleuse vor dem Ausgang passierten, scherzten sie: »Hilfe! Es wird gleich piepsen, wir sind kontaminiert!«
    Dem Umkreisen des hohlen Höllenbauchs folgte ein Abendessen in einem verglasten Wintergarten eines Schlosses mit blühenden Zitronen in Kübeln und mit einem schweigsamen weißen Kakadu im hohen abgerundeten Käfig. Marina stellte sich vor, wie die Kellner in weißen Handschuhen diese draußen auszogen, den Instruktionen des Vergils folgend: »Ziehen Sie zuerst den einen bis zur Hälfte und dann den anderen aus, damit Ihre Finger die Handschuhe von außen nicht berühren.«
    Im Gespräch zeigte sich, dass die deutschen Höllenwächter und ihre russischen Kollegen verschiedenen Höllenkreisen entsprungen waren. Die Deutschen verteidigten ihre angewandte Atomphysik mit heiterer Rationalität. Sie sei
    ökonomisch unschlagbar;
    ökologisch das Unbedenklichste, das man sich vorstellen könne;
    die moderne Medizin sei ohne sie kaum zu denken;
    es gäbe neue sichere Verfahren, aber die Politik bremse die Forschung;
    Politiker verstünden all das nicht: Wenn die alle Werke abbauen, wird sich herausstellen, dass wir in fatale Abhängigkeit von den anderen geraten;
    usw.
    Marina hatte keine Schwierigkeiten, das zu dolmetschen. Die Russen breiteten ihre Verschwörungstheorien aus, etwa:
    Französische Politiker haben von Anfang an die deutschen Grünen unterstützt, um in Sachen Kernforschung die Vormacht zu gewinnen.
    Der Abend wurde immer informeller. Der russische Hauptwissenschaftler, den sogar der Hauptbeamte der Russen ehrerbietig ansah, löste ein wenig seine Krawatte, lehnte sich zurück und sagte:
    »Farben sind nicht einfach so, jede hat eine tiefere Bedeutung.« Marina dachte, dass etwas folgen würde, was mit der Physik der Farben zu tun hat, und freute sich, dass sie Franziska nächstes Mal etwas Gescheites berichten können würde: Franziskas Professor an der Kunsthochschule behandelte die Farben an der Grenze des Metaphysischen, Franziska sprach oft und gerne davon und Marina fühlte sich überfordert (und wollte das nicht

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