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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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die Ferien fahren, zu gütigen Bernhardinerhunden mit Cognacfässern um den Hals. Also ich konnte gerade noch fliehen, aber im Wald sah ich auf einer Lichtung zwei Soldaten, in Scheiße und Blut. Jemand hat mich dann betäubt, weiter ist es mir wie dir ergangen. Und du?«
    »Stell dir vor, ich kann dir genau dasselbe berichten. Ich glaube, wir waren im selben Hotel. Komisch, dass wir uns dort nicht gesehen haben«, sagte John, dem diese russische Mischung aus Lüge und Wahrheit gefiel.
    In der Nacht träumte er, wie eine Füchsin in die Hütte kam und die Gestalt eines schmächtigen Mädchens mit hellen Haarfransen über der Stirn und abgekauten Fingernägeln annahm. Als er wach wurde, verstand er, dass das Natascha war, die ihn vorwurfsvoll ansah, und dachte wieder an Fjodor.

    ♦

    »Bin ich ein Gefangener?«
    »Nein!«
    Eine Fliege landete auf Johns Wange. Zugleich wurde seine Hand von dem Sprachkundigen schmerzhaft gepackt. Er warf den Sprachkundigen über die Schulter (nicht umsonst war er jedes dritte Wochenende des Monats im Training bei Mister White). Viele starke Hände fassten ihn und zwangen ihn zu Boden. »Beruhigen Sie sich, niemand greift Sie an«, sagte der Sprachkundige und goss ihm Tee nach, »Sie haben beinah ein Lebewesen getötet, ich musste eingreifen. Das Töten der Tiere ist bei uns möglichst zu vermeiden. Es sei denn, es geht darum, das Leben eines Menschen zu retten. Wäre das keine Fliege, sondern eine Giftschlange gewesen, hätte ich Sie nicht gehindert. Im Winter sind auch wir keine Vegetarier, sonst würden wir bei der Kälte nicht überleben können. Das ist eine sehr traurige Notwendigkeit, und wir sind den Tieren zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet. Einfach so, ohne Lebensgefahr, bloß weil die Fliege Ihre Wange kitzelt, sie zu erschlagen, ist ein Unding. Man darf kein unnötiges Leiden in die Welt setzen. Weil jedes Leiden, ist es auf der Welt, auf der Welt bleiben und weiterwandern wird. Ich bitte natürlich vielmals um Entschuldigung, dass ich Sie auf so brutale Weise daran hindern musste.«
    Die Wächter sahen, dass John keine weiteren Angriffe vorhatte, und kehrten zurück ins Unsichtbare.
    »Bin ich ein Gefangener?«, fragte John.
    »Nein«, sagte der Sprachkundige.
    John erzählte ihm endlich von der Lichtung mit dem Argusfasan und den Soldaten. Und dass er von einem Fangseil gefangen und gleich betäubt worden war.
    »Die Soldaten, die armen. Das ist anders bei uns. Wir sind sehr wenige. Und wir haben keine Kriege. Aber das ist nicht der Grund, warum wir hier sind«, sagte der Sprachkundige.
    »Und wie bin ich zu Ihnen gelangt?«, sagte John.
    »Das würden auch wir gerne wissen. Obwohl … ja! Vielleicht kann ich das erklären. Die Soldaten waren wahrscheinlich im Begriff, zu uns überzulaufen, als sie angegriffen und verletzt wurden. Der Übertragungsprozess wurde schon aktiviert. Und Sie sind dann gekommen und an die Stelle getreten, an der man die Grenze passiert. Das Weitere haben Sie als Betäubung empfunden. Und wir haben die Soldaten nicht vermisst, weil die Transportspuren von Ihnen besetzt wurden und keine Meldung für nicht ausgeführte Aufträge eingetroffen ist. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss dringend die Suche nach den beiden Soldaten anordnen.«
    Wie kam der Russe auf dieselbe Lichtung? Hatte er ihn verfolgt?, fragte sich John, fragte aber den Sprachkundigen, als er wieder da war, etwas anderes:
    »Warum haben wir die Fremdsprachen nicht vergessen, die wir können? Wir sind doch auch über diese Schleuse gekommen, über die die Ihrigen kommen?«
    »Haben Sie nicht? Das ist mir ein Rätsel. Ich würde mir gerne Ihr Enzephalogramm anschauen. Aber das tun wir nicht. Es sei denn, Sie würden das auch wollen. Sie haben als Gäste Ihre Rechte.«
    John vermutete, dass das eine Folge des Gedächtnis-Experiments war. Ihm war damals erklärt worden, dass sein Gedächtnis dadurch gegen Manipulationen gewappnet sein werde. Das bedeutete, dass auch der Russe, der sein Deutsch behielt, eine solche Erfahrung hatte.
    »Sagen Sie, wenn die Ihrigen zurück dürfen, heißt das, auch wir dürfen zurück?«
    »Wir haben lange gewartet, dass Sie oder Ihr Freund (er ist doch Ihr Freund?) danach fragen. Sonst wäre das unsererseits nicht sehr gastfreundlich. Klar, können Sie. Ich möchte Ihnen zum Abschied etwas zeigen. Ich bin Dichter. Ich verfasse die Geschichte meines Volkes in Versen. Aber ich schreibe auch kleine Sachen, für die mir hier die Zuhörer fehlen. Ich habe

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