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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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zeigen). Aber etwas ganz anderes folgte: »Auf hohen Bergketten bildete sich die erste Zivilisation. Unten waren Sümpfe, Miasmen, Kannibalen, unten blieben auch die Schwarzen und die Gelben. Und die olympischen Götter waren eigentlich einfach die Weißen, das war das goldene Zeitalter …«
    Zum Glück hatten die deutschen Höllenwärter gerade etwas Organisatorisches unter sich zu besprechen, sodass Marina diese Farbenlehre nicht übersetzen musste. Solche Fantasien stammten aus den spätsowjetischen Zeiten, von den Menschen entwickelt, d.h. aus allen möglichen Quellen zusammengebastelt, die von der offiziellen Sozial- und Geschichtswissenschaft unbefriedigt waren. Sie wusste auch, warum die Russen Rotwein und grünen Tee tranken: als Gegenmittel gegen Höllenstrahlung. Es gab ein berühmtes Buch, das grünen Tee zur Bekämpfung von Strontium 90 anpries. Das war ein sehr poetisches Buch: Wasser zum Beispiel solle man nicht ganz zum Kochen bringen, sondern nur bis zur »weißen Quelle«, also bis zu weißtrüber Unruhe. Man erzählte, es sei einmal eine Frau zu dem Autor nach Hause gekommen und habe gesagt: »Aus Ihrem Tee-Buch sieht man, dass Sie einsam sind«, und sei seine Frau geworden, erzählte Marina, um die Gesellschaft von der Farbenlehre abzubringen. Aber das wussten die Russen ohnehin.
    Was sie nicht wussten, war, dass der berühmte Erfinder von »Big Brother is watching you« ebenfalls eine kleine Teekunde geschrieben hatte, mit ganz anderen Faustregeln. Ihm zufolge muss das Wasser kochend in die Teekanne gegossen werden, und auf keinen Fall der Teekessel zur Teekanne gebracht, sondern die Teekanne zum kochenden Teekessel. Über chinesischen (und damit höchstwahrscheinlich über grünen) Tee hieß es bei ihm, er mache niemanden weiser, tapferer oder optimistischer.
    Mit Orwell versuchte Marina verzweifelt das gerade aufgebrachte Thema zu wechseln, das noch peinlicher war als die Farben: Dasselbe As hatte begonnen, (mit allen Vorbehalten) die Strenge und den Verstand Hitlers zu preisen. Bei der Nennung des Namens, den die Deutschen höchstwahrscheinlich nicht identifiziert hatten, weil die Russen ihn als »Gitlir« aussprechen, sagte der bis jetzt schweigende weiße Kakadu: »Heil!« Dann lachte er und sagte: »Kaputt!« Dann weinte er und sagte: »Heil!« Er lachte und weinte abwechselnd und sagte abwechselnd »Kaputt!« und »Heil!« wie ein übermütiges Kind, bis ein Kellner mit weiß behandschuhten Händen ihn wegbrachte (»zum Katzentisch«, sagten die Deutschen, und Marina versuchte das Wortspiel wiederzugeben, das zu einem Tisch führte, an dem eine Katze mit Besteck saß und wartete, bis ihr ein Vogel serviert würde). Mit Hilfe des Kakadus (der offensichtlich Russisch verstand und wahrscheinlich seinerzeit in russischer Gefangenschaft gewesen war) gelang es Marina, die Gesellschaft von »Gitlir« abzubringen und auf die (nach Orwells Ausdruck) mysteriösen Sitten des Teetrinkens zu lenken. Die Russen fanden es amüsant, dass in England das Trinken aus der Untertasse als vulgär galt. Sie dachten, diese Art des Teetrinkens sei überhaupt nur in Russland bekannt. Orwell dagegen meinte, die russische Art sei es, den Tee zu süßen. All das wusste Marina von John, der ab und zu Lust hatte, einen britischen Dandy zu spielen. Er spielte manchmal auch einen russischen Bohemien, seine russische Aussprache wurde immer authentischer. Fjodor (wenn er besonders viel getrunken hatte) hatte behauptet, John sei ein Spion gewesen, er sei einmal mit einem Major aus einem Lokal weggegangen und ohne den Major zurückgekommen. Was hat er mit dem gemacht? , fragte Fjodor. Liegen seine Gebeine vielleicht am Grund der Newa, von Fischen abgenagt und vom Wasser poliert?
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Wenn du dich einmal überwindest, dann fällt es dir nicht schwer: einfach im Bett zu bleiben. Bei genauer Überlegung ist es auch nicht nötig, dass man jeden Tag in die Schule geht. Kurz vor dem Abitur sowieso. Nur nicht nervös werden. Ruhe bewahren – sagt sich Moritz fünfmal in der Woche und geht dann doch in die Schule. Das Maximum an Willenskraft, das er bisher aufgebracht hat: seiner Mutter und dem Stiefvater zu sagen, dass die ersten zwei Stunden ausfallen. Aber nachdem sie schon gegangen sind und er alle Möglichkeit hätte, weiter im Bett zu bleiben, steht er doch auf. Gestern war er in der Schule von der Nachricht unangenehm überrascht

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