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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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besessen, man solle alles in Immobilien umsetzen, Ersparnisse, Zusatzrenten, naja, weißt du, alles. Als ob er nicht genug um die Ohren hätte, stell dir vor, was man dann alles tun muss, Mieter, Reparaturen, keine Ahnung. Diese Grenze zwischen hier und da ist so dünn. Es gibt Menschen, die sicher sind, dass sie das Elend der Welt nichts angeht. Frank ist so ein Mensch. Er glaubt, man könne alles voraussehen und sich wappnen.«
    Marina fragte sich, ob die Kinder diese feine Nervosität wirklich von Andreas mit seinen melancholischen Anfällen hatten, oder doch von Sabine mit ihren Ängsten. Vielleicht hat Sabine Andreas nur wegen ihrer Ängste verlassen und sich eingeredet, sie wäre in Frank verliebt, weil er für Familienleben einfach viel besser geeignet war. Andreas ist kein Mensch fürs Großziehen der Kinder, kein Mensch für Immobilienspekulationen, keine Verankerung. Er ist mit seinen Büchern, seiner Depression beschäftigt und glaubt, dass das Leben von alleine geregelt wird, er kann stundenlang schweigen und sich weigern, auszugehen, zeigt sich aber beleidigt, wenn Marina ihn mit diesem Schweigen für den Abend allein lässt (was sie manchmal nur macht, um dieser Schwermut auszuweichen, sich nicht davon anstecken zu lassen). Vielleicht hat ihn Sabine immer geliebt und nur aus Angst um die Zukunft ihrer Kinder …, dachte Marina, der es selbstverständlich schien, Andreas zu lieben. So selbstverständlich, wie ihr als Kind die Laute ihrer Muttersprache die richtigsten zu sein schienen: das russische »n« oder »r« oder »o« waren die Ausgangslaute, und alle anderen waren Abarten. Trotz allem, trotz seiner melancholischen Einfälle und sogar trotz Laura mit ihrer Kätzchenkarte empfand sie ein fast verwandtschaftliches Gefühl für ihn, als hätten sie dieselbe Muttermilch getrunken, ihr gefielen sogar dieselben Frauen wie Andreas, sie traf sich gerne zum Kaffee mit Sabine und mochte Laura.
    Ihr Taschentelefon klingelte. Es war Moritz.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE/VERLIEBTE AUGEN
    Dann ging sie wieder. Sie war zuerst im Kino mit Martin und ein paar Freunden.
    Als sie im Vorraum Bier tranken, sah sie an einem Tisch schräg gegenüber ein älteres Paar, beim Rotwein. Franziska schaute an dem (mageren) Herrn in (lockerem graugrünen) Pullover, (grüner) Baskenmütze und mit Drei-Tage-Bart vorbei, ließ aber ihren Blick bei der Dame, die etwas hatte, was (junge) Frauen (hoffnungsvoll) an (alten) Frauen beobachten, etwas, was hoffen lässt, dass es Leben jenseits der 30 (40/50/60/70/usw.) gibt. (Selbstbewusste) Haltung, eine (lockere) Art, den (roten) Kurzmantel und (schmalkrempigen weißen) Hut zu tragen. Der Mann beugte sich über den Tisch und leckte der Dame die Nase ab. Die Dame war überrascht, aber – (offensichtlich) gegen die Erwartung ihres Begleiters – eher angeekelt, nicht vergnügt. Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Damentasche und wischte sich die Nase. Dann kräuselte sie sie immer und immer wieder. Franziska wollte das nicht mehr sehen, aber ihr Blick kehrte (unwillkürlich) zu dieser (gerunzelten) Nase zurück. Während der Vorstellung musste Franziska an die Dame, den Herrn und die abgeleckte Nase denken. »Das Wort ›ekelhaft‹ ist deshalb so ekelhaft, weil es kein ›c‹ vor dem ›k‹ hat«, hörte sie einen Rapper auf der Leinwand singen.
    Nach dem Kino draußen: Regen und Nacht. Als sie ins Kino gingen, war es (heller) Tag. Obdachlose mit (leisen, glatthaarigen) Hunden und (geöffneten) Bierbüchsen auf ausgerollten Schlafsäcken. Drei Männer und eine Frau. Die Stimme der Frau durch Regen und Nacht: »Ich bin keine Frau für einen one night stand. Du musst dir das gut merken: Ich bin keine Frau für einen one night stand. Verstehst du, ich bin keine Frau für einen one night stand.« Martin lachte. »Warum lachst du«, sagte Franziska, Martins Lachen nervte sie fast bis zum Weinen, auf jeden Fall zum Kotzen, sie verspürte einen leichten Ekel, »das ist (völlig) verständlich, was sie meint, ein one night stand wäre für sie eine (völlige) Kapitulation vor dem Leben, verstehst du? Verstehst du nicht! Ich könnte, ich kann mir das leisten, ich habe ein (bequemes geregeltes) Leben, die Wohlstand-Schicht ist (fett) genug, dass ich mir das leisten könnte, jede Nacht einen anderen Partner zu haben. Sie aber nicht! Ich kann jetzt zum Beispiel ruhig mit Thomas gehen«, sagte sie und sprach dabei das aus, was sie auch insgeheim

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