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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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nichts geschehen). Marina sah Baugerüste, Baukräne, Straßenabsperrungen, Auspuffe diverser Geräte und alles, was diese Stadt in eine geometrische Abstraktion verwandelte, vor sich und dachte, dass sie doch lieber in der nach Kaffee und Schokolade riechenden Wärme bleiben würde. Es gab gerade noch einen freien Tisch für sie, erstaunlich viele Menschen versuchten die erste, noch nicht ernste Aprilsonne zu genießen. Berliner sind kältefest.
    Sabine wollte wissen, wie es mit dem Rauchen war:
    »Wie ist es, wenn man rauchen will? Wie Hunger? Wie Durst?«
    »Es ist, wie wenn du verliebt bist und dich sehnst nach dem, den du liebst. Deshalb raucht ein verliebter Raucher mehr als ein nicht verliebter Raucher. Weil das eine Verdoppelung der Sehnsucht ist.«
    »Bist du verliebt?«, fragte Sabine.
    Marina hatte diese Rauchen-Verliebtsein-Parallele formuliert, als sie sich wieder in Andreas verliebt hatte, fast zwanzig Jahre nach ihrer ersten Liebe, das hieß, nachdem sie zum ersten Mal in Andreas verliebt war, das hieß auch, dass sie Andreas zu ihrer ersten Liebe erklärte (es wäre wahrscheinlich richtiger, einen heute für sie namenlosen Jungen aus dem Sandkasten zu nennen, der ihr vor fünfunddreißig Jahren versprochen hatte, einen Hubschrauber und ein Kilo Würstchen zu besorgen und mit ihr zusammen nach Afrika zu fliegen). In der Zeit zwischen diesen zwei Lieben war Andreas mit Sabine verheiratet; im Laufe dieser Jahre war auch sie einmal verheiratet; in der Zeit zwischen diesen zwei Lieben wurden die Flicken am Flickenteppich der Weltkarte so umgenäht, dass Marina jetzt eine Umrisskarte kaum mehr mit den Ländernamen und Hauptstädten beschriften hätte können, obwohl sie das im Erdkundeunterricht am meisten gemocht hatte. In der Zeit zwischen diesen zwei Lieben verschwanden zwei junge Menschen, die diese Zeit miteinander verbringen hätten können, und an ihrer Stelle traten Marina und Andreas auf, wie sie jetzt waren. Nun ausgerechnet Sabine über ihre Selbstbeobachtungen zu erzählen, die mit Andreas zu tun hatten, fand sie peinlich. Sie sagte:
    »Sehnsucht ist das deutscheste aller deutschen Wörter, weißt du das?«
    Marina dachte an Andreas, mit Sehnsucht, die von ihren Gedanken an Sehnsucht geweckt wurde. Das Rauchen dagegen, nachdem die Zigarette geraucht war, schien ihr nicht wert, Sabine in Kälte und Lärm hinauszuzwingen. Sie sagte: »Und wenn man den Geliebten bei sich hat, ist das im Vergleich mit der Vorstellung genauso enttäuschend wie die Zigarette, wenn sie schon geraucht wurde.«
    »Ach, es ist herrlich draußen«, sagte Sabine.
    Marina, die jetzt gar kein Verlangen nach Rauchen hatte, zündete sich eine neue Zigarette an, einfach weil sie speziell dafür draußen saßen: »Im Rauchen hast du so eine Art Liebe, die nie enttäuscht. Nur gelegentlich tödlich sein kann. Greift das Gedächtnis an. Verursacht Falten.«
    »Du bist noch jung«, sagte Sabine und Marina dachte, dass einige Frauen ihren zehn Jahre jüngeren Freundinnen sagen du bist doch noch jung , während andere sagen wir in unserem Alter … »Du lachst noch über die Falten. Aber warte. Das ist keine Eitelkeit. Ich meine, ich sehe manchmal meine Mutter im Spiegel, und es ist mir unangenehm, wie die eigene Mutter auszusehen. Da erwacht ein Teenager in mir, der mit kaltem Blick jede Unsicherheit bemerkt. Und nun frage ich mich natürlich, ob Franziska mich mit derselben giftigen Aufmerksamkeit beobachtet.«
    »Du hast wunderbare Kinder«, sagte Marina und dachte, dass es heißen sollte: Ihr habt wunderbare Kinder. Aber wer sind dann ihr ? Sabine und Andreas? Sabine und Frank? Sie hätte gerne gesagt: Wir haben wunderbare Kinder, was natürlich am dümmsten gewesen wäre.
    Sabine hörte das gerne, sagte aber: »Ich weiß nicht. Ich habe Angst um sie, Panikattacken. Bei uns war alles anders. Wir haben im goldenen Zeitalter gelebt. Es kam immer etwas Nettes, Neues dazu. Meine Eltern konnten sich (und uns) immer mehr leisten. Und wir? Immer weniger. Frank sagt mir jeden Tag, dass wir nicht zulassen sollten, dass Franziska in die Kunsthochschule geht, dass man dort nur kifft und Blödsinn erzählt. Was soll das, sagt er, was heißt ›Künstlerin werden‹? Ok, ich habe auch Kunstgeschichte studiert, aber wie gesagt, es war eine andere Welt. Ich gebe in der letzten Zeit immer etwas den Bettlern, und sie sind so viele geworden. Ich gebe Kleingeld her, als könnte man sich vom Schicksal loskaufen.
    Frank ist jetzt von der Idee

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