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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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worden, dass Eva Tobias’ Freundin geworden war, was ihm Maria nebenbei erzählte, nicht ohne Schadenfreude. Oder hat er Schadenfreude hinzugedichtet? Vielleicht: Woher könnte Maria wissen, dass er glaubte, Eva habe ihn mit besonderer Aufmerksamkeit ausgezeichnet? Er hat die Nacht vor seinem iPad in der Gesellschaft von Pornofotos und -videos verbracht, bis ihn die bunten Mädchenkörperteile zu ekeln begannen, und ist jetzt müde und verstimmt. Und bleibt im Bett, um sich zu beweisen, dass er doch willensstark ist.
    Unter dem sonst unsichtbaren Regen wird der Lindenzweig hinter dem Fenster zu einem mehrdimensionalen Klavier. Die Regentropfen senken mal das eine, mal das andere Blatt, als wären die Blätter Klaviertasten, von unsichtbaren Fingern berührt.
    Er schließt die Augen. Im Schlaf hat er ein Gefühl, nicht seinen eigenen Traum zu träumen, sondern einen Traum einer alten Frau, die jahrzehntelang jede Nacht von ihrem im Krieg gefallenen Bräutigam träumt: Wie sie tanzen. Für sie ist das der allerletzte Tanz der Welt, der jede Nacht wiederkehrt. Wüsste Moritz, welcher Tanz das war (welchen Tanz er im Traum tanzte, als Frau, zum Lindenklavier), dann wüsste er wenigstens, in welchem Krieg der Bräutigam gefallen ist, und wohin mit diesem Traum, in welche Geschichte.
    Er öffnet die Augen: Die untere Hälfte des Fensters ist von einem Lindenzweig schräg verdeckt. Das obere Blaueck ist den großen Vögeln und kleinen Flugzeugen überlassen. Er folgt den langsamen Flugzeugen, bis sie hinter dem Fensterrand verschwinden. In einem der Flugzeuge fliegt der in unklar welchem Krieg gefallene Bräutigam der unklar welchen Braut. Moritz hatte früher, bevor sie gestorben war, eine unverheiratete Großtante, deren Bräutigam von der russischen Front nicht zurück kam. Ist das sie, die ihren Traum an ihn weiterleitet?
    Was tanzten sie? Wagten sie, den als wehrzersetzend gebrandmarkten Swing zu tanzen? Wäre das in der Nazi-Zeit sehr gefährlich gewesen? Wohl ja. Moritz würde gerne glauben, dass seine Großtante geswingt hatte, aber nichts deutet darauf hin, dass es in seiner Familie je einen gab, der zur geringsten Zivilcourage fähig war.
    Einer seiner Urgroßvettern war im Ersten Weltkrieg mit dem Zeppelin verunglückt. Man wollte damals London und Paris mit den Zeppelinen erobern. Er dachte immer daran, wenn er einen Werbezeppelin sah. Zum letzten Mal, als seine Tante Anita einen Zeppelin über dem Kirmesplatz schweben ließ, der mit der Webadresse eines neuen Produktes ihrer Firma beschriftet war: akzeptieredeinennächsten.com . Das war der Verkaufshit und Stolz des Chefs.
    Was hätte die Braut des Zeppelin-Fliegers geträumt? – Tango?
    Und eine Braut im Deutsch-Französischen Krieg? – Walzer?
    In den Napoleonischen Kriegen? – Galopp?
    Im Siebenjährigen Krieg? – Menuett?
    Im Spanischen Erbfolgekrieg? – Sarabande?
    Im Dreißigjährigen Krieg? – Gavotte?
    Wozu braucht man einen Leistungskurs Geschichte, wenn man nicht einmal das mit Sicherheit weiß. Und überhaupt: wieso braucht man unbedingt ein Abitur für das Literaturinstitut? Für die Musikhochschule braucht man keins. Und auch nicht unbedingt für eine Kunsthochschule. Vielleicht doch lieber Germanistik studieren, oder Slawistik? Wenn er sowieso gezwungen ist, Abitur zu machen?, denkt Moritz, steht aber trotzdem nicht auf.
    Stattdessen versucht er festzustellen, wie lange man eine Geschichte ohne Adjektive erzählen kann. Nimmt man gestern Abend zum Beispiel: Franziska kam früh nach Hause. (Oder ist »früh« zu adjektivisch? Also auch möglichst wenig Adverbien). Als Franziska nach Hause kam, war – anders als an (vielen) Tagen davor – der Abend nicht zu Ende, die Nacht noch nicht da. Ihre Augen sahen entweder verweint aus oder verrieten, dass sie in der letzten Zeit zu wenig geschlafen hatte oder erkältet war. Bald ging sie wieder.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Aber Sabine erzählte sie all das nicht. Sie sagte: »Es war interessant. Setzen wir uns lieber nach draußen? Ich würde gerne rauchen.« Sie nahmen ihre Tassen und verließen den warmen kaffeebraunen Raum mit den großen Schwarzweißfotos an den Wänden (Sabine hatte eine Vorliebe für Cafés mit großbürgerlichem Berliner Charme, die so taten, als hätte es an diesen Orten, an denen sie in den letzten zwanzig Jahren eröffnet wurden, keine Geschichte gegeben, als wäre zwischen den 1920ern und 2000ern

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