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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Nacht eine melancholisch-langsame Erzählung, in der ein Sohn (in einer Gymnasiasten-Mütze, aber in einem Alter, in dem man schon einberufen werden kann) unentwegt von den verliebten Blicken seiner Eltern begleitet wird. Auf einem Landgut, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die verliebten Blicke lassen ahnen, dass es nicht gut ausgehen kann: der Erste Weltkrieg vor der Tür, der Sohn in einer Gymnasiasten-Mütze. Marina war dem Autor dankbar, dass er nicht verrät, wie es dieser Familie weiter ergeht. Die drei bleiben für immer im Hochsommergarten mit blutroten Äpfeln, mit unsicheren, im hohen Gras kupfern blitzenden Blindschleichen, die auf rostige Nacktschnecken lauern, mit Elstern, die diese Nacktschnecken für verdunkelte Spiegelscherben halten – am Vorabend des Schreckens, des blind schleichenden Nacktschreckens.
    Gut, dass Franziska und Moritz nicht unentwegt von verliebten Blicken ihrer Erwachsenen begleitet sind, weil verliebte Blicke nämlich ahnen lassen, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird. Andreas ist zu schwermütig dafür. Sabine ist zu vertieft in ihre Sorgen, auch in ihre Sorgen um Franziska und Moritz. Frank ist zu rege und zu beschäftigt. Und sie, Marina, ist zu ängstlich, wenn sie diese Kinder sieht, die ums Haar ihre sein könnten. Sie hat immer Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie wüsste nie, welcher Ton der richtige wäre.
    Sabine sagt: »Was sich die Eltern von ihren Kindern wünschen, ist das Glück. Nicht das Eltern-Glück, was auch immer das heißen soll. Und nicht Zukunftssicherung, wie es früher war. Bloß, dass sie glücklich sind. Wenn bei mir etwas schief läuft, oder vielmehr, wenn es so aussieht, als liefe bei mir etwas schief, dann bin ich automatisch im inneren Gespräch mit meiner Mutter, ich rechtfertige mich, ich erkläre ihr, dass im Grunde sie an allem schuld sei. Sogar daran, dass ich in der letzten Zeit so schlecht aussehe. Wie ein Kind. So was Doofes. Weil ich immer noch denke, dass sie von mir nur verlangt, dass ich glücklich bin.« Sie will noch erzählen, wie schwer es ihr fiel, der Mutter von der Scheidung von Andreas zu berichten, aber das passt nicht so gut ins Gespräch mit Marina.
    »Du siehst sehr gut aus«, sagt Marina und denkt, dass Sabines Wunsch, nämlich dass Moritz und Franziska ein glückliches Leben leben und sie in Ruhe lassen, unerfüllbar ist, weil sie immer Angst um sie haben wird, anstatt sie mit verliebten Blicken gedankenlos zu streicheln.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Die Laufzeile des U-Bahn-Monitors teilte mit, dass mehr als die Hälfte der deutschen Frauen übergewichtig sei. Moritz wollte die Statistik der Frauen im Waggon erstellen. Aber keine, die wirklich übergewichtig gewesen wäre, fiel ihm auf. Dafür saß am Ende des Waggons eine schwarz gekleidete Frau mit langen schwarzen Haaren und weißen Strähnen darin, die wie übriggebliebene Schneestreifen auf der schwarzen Erde waren, wie du sie unter den Schreien der Saatkrähen im Frühjahr auf dem Land sehen kannst. Sie nutzte den freien Platz auf der Bank für die Dinge aus ihrem Einkaufsroller: eine halbleere Flasche Rotwein; eine Wollweste; ein Stapel Papier; eine portable Schreibmaschine. Die nächste Haltestelle war seine, aber er wollte sehen, was die Frau mit ihrer Schreibmaschine machen würde, und blieb im Waggon sitzen (Marina wird ihm wegen der 15 Minuten Verspätung nicht böse sein). Die Frau steckte alle Gegenstände wieder in den Einkaufsroller, in der umgekehrten Reihenfolge, und verließ den Waggon zwei Haltestellen weiter. Sie fand eine freie Bank auf dem Bahnsteig und holte alles wieder heraus. Und begann zu tippen:

    DIE SITUATION: EINE VERSAMMLUNG VON BETTLERN AUS VERSCHIEDENEN ZEITEN UND LÄNDERN. GEISTERSTUNDE.

    Sie kamen von überall her zu einem kleinen runden Platz in Paris, der für diese Stunde viermal im Jahr für alle außer ihnen gesperrt wurde, das hieß, Zeit und Raum wurden herausgepumpt und der Platz wurde mit einer anderen Zeit und einem anderen Raum gefüllt.
    Zu jeder Jahreszeit begann es zu dieser Stunde zu schneien: große beleuchtete Schneeflocken, welche sonst nur auf einer Ballettbühne möglich wären. Ein Auto fuhr im Kreis um den Platz, aus dem Fenster sang eine leise Stimme Mimis Arie aus "La Bohème", und dann kamen sie:
    Ein einbeiniger Militärinvalide mit einem vom Hosenbein umwickelten Stelzfuß.
    Ein singender Mann mit Fahrrad, freundlichem Lächeln und

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