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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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nicht wohl fühlte und trotz eines dicken grünen Wollschals Schüttelfrost hatte, winkte ab und verschwand in seinem Schlafsack. Der andere inspizierte seine Jacke, sie schien akzeptabel zu sein, roch nach fast nichts, ein bisschen nach Zwiebel, aber das war nicht schlimm. Er könnte nun auch eines der Mädels von der anderen Seite der Seine mitnehmen, weil er so viel Geld hatte. (Er fragte sich, woher, und kam zum Schluss, dass das wieder diese Dame gewesen sein musste, die er einmal kurz vor Heiligabend vor der Tür eines Lebensmittelgeschäfts angesprochen hatte, ob sie ihm zwei Euro fürs Brot geben würde. Die Dame, sie war jung und hübsch und fein angezogen, sah ihn erstaunt an und fragte, was er bitte genau wolle, er sagte: “Zwei Euro, ich habe Hunger“, die Dame nahm aus ihrer Manteltasche einen Euro und fünfzig Cent und sagte: “Das könnte ich Ihnen geben“, er antwortete großzügig: “Das reicht vollkommen! Ich will mir nur Brot holen“, und trat ins Geschäft. Als die Dame mit ihrem Einkaufswagen mit teurem Wein, Weintrauben, Baguette und einigen kleinen Pergamentpapier-Päckchen an ihm mit seinem Baguette und der Leberwurst vorbeikam, sagte sie, ihn mit ihren ungewöhnlich hellen Augen direkt anschauend, was kaum jemand von denen tat, die ihm Almosen gaben: “Warten Sie, ich kann Ihnen noch das geben“, und ließ einen Fünfeuroschein von ihren Fingerspitzen in seine Handfläche fallen, er sagte “danke“, sie sagte “bitte“, er kaufte sich Saft und Obst, damit sie sah, wie vernünftig er ihr Geld ausgab, er hatte keinen Zweifel, dass er ihr als Mann gefiel, und glaubte nun, sie habe ihn dösen sehen und ihm viel Geld gegeben, und dass sie bald wieder komme).
    Das Geld hatte er, weil die dreibeinige Katze ihre Kartäuserrauchfarbe nützte und im augenblicklichen kartäuserblauen Rauch der Bomben ihm ein Säckchen Kleingeld im Maul brachte und davonlief, im Lauf die Rauchfarbe abschüttelnd und getigert werdend. Sie brachte ihm das Säckchen dafür, dass seine schwere Gestalt, sein großer Kopf mit groben schwarzgrau gescheckten Locken und seine selbstbewusste Haltung den romantischen Vorstellungen von einem Clochard entsprachen und er zu der Geisterstunde der Bettler gut passen würde. Dafür, dass er Pierre hieß, an Zahnschmerzen litt, Mitte dreißig war, eine Tochter hatte, die seine Exfrau ihm nie zeigte, ein Elternhaus hatte, wo er sich seit zehn Jahren nicht mehr blicken ließ, und demnächst nach Süden zur Orangenernte fahren wollte und nur auf seinen Schulkameraden wartete, der Trucker war und ihn mitzunehmen versprochen hatte.

    ♦

    Dann rief Marina Moritz an und fragte, wo er geblieben sei.
    Im Gegenrichtungszug waren alle Frauen übergewichtig, die Hälfte trug Kopftuch. Die Laufzeile auf dem Bildschirm berichtete von der bedrohlichen Zahl magersüchtiger Jugendlicher.
    In der Unterführung stand ein Bettler mit einem vom Hosenbein umwickelten Stelzfuß. Die ungeläufige Erscheinung erinnerte Moritz an alte Schwarzweißfilme. Und die Schwarzweißfilme erinnerten ihn an Eva, wie sie nach den Winterferien erzählte, dass sie Weihnachten mit ihrem Vater verbracht hatte, anstatt mit Mutter und deren Freund in Skiurlaub zu fahren. Sie hätten gekocht, gechillt, Videos angesehen. Eva habe ihrem Vater eine Billy-Wilder-Box geschenkt. »Ich habe mir überlegt, was man einem so Mitte vierzig schenken könnte. Na ja, war okay. Ich habe davor noch nie einen Schwarzweißfilm gesehen.« Wie lieb, wie wunderbar das ist , dachte Moritz damals, ein Mensch, der hundertprozentig in der Gegenwart lebt. Ohne zu ahnen, was früher war, ohne zu grübeln, was danach kommen wird . Er fand das beneidenswert. Und bewundernswert sowieso. Ihm schien, er hätte diese wohlwollende Ignoranz, diese ignorante Vitalität begehrt, die ihm fehlte. Jetzt, nach der von der schadenfrohen Maria überbrachten Nachricht von gestern, war er sich nicht mehr sicher, dass das tatsächlich so wunderbar gewesen wäre, wie er damals meinte. Und dass es so begehrenswert gewesen wäre, so eine Freundin zu haben. Soll sie es doch lieber mit Tobias treiben.
    Er dachte kurz an die Eisverkäuferin des vorigen Sommers. Ein Gedanke, der einer Fledermaus in der Sommernacht ähnlich war: Du weißt zwar, dass es eine ist, bist dir aber nicht sicher, ob vielleicht doch ein Vogelschatten huscht, eine Nachtschwalbe vorbeifliegt, ein Ästchen vom Baum fällt oder gar nichts ist. Aus vielen kleinen Nicht-Ereignissen damals entstand ein

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