Mörikes Schlüsselbein
Ereignis, das keine äußeren Folgen hatte, nur innere Spuren hinterließ. Er wird auch später ab und zu an das Eis-Mädchen denken, jedes Mal, wenn eine Beziehung zu Ende gehen wird. Er wird die Gefühle, die er für die jeweilige Frau aufbringen wird, nachdem sie sich verflüchtigt haben, mit dem vergleichen, was er dem Eis-Mädchen gegenüber empfunden hat. (Nur Franziskas Gegenwart wirkte auf ihn auf eine ähnliche Weise – und wird immer so wirken. Er wird das bemerken und es sogar verbalisieren, aber dieses Wissen wird von einem Verbot umzäumt sein, das er tief respektieren und nicht durchbrechen wollen wird.) Er wird in seinen späten Jahren einmal ein Buch schreiben, das er aus diesem Nicht-Ereignis mit dem Eis-Mädchen heraus denken wird: über Nicht-Ereignisse als Leitmedien zwischen Körper und Seele, die den Körper und die Seele voneinander wissen lassen. Der Grafiker wird für den Umschlag die marmornen Amor und Psyche von Canova auswählen, Moritz wird damit nicht glücklich sein, es aber so stehen lassen, weil ihm sonst das nicht vorhandene Bildnis des Eis-Mädchens vorschweben wird.
Das Eis-Mädchen selbst wird er bei seiner Tante Anita noch ein paar Mal sehen, sie wird mit ihrem Vater, dem Rasenmäher Rami, kommen und bei Familienfesten in der Küche helfen: im Kopftuch, mit Bärtchen über der Oberlippe. Ihr Mann wird sie spät am Abend abholen. Diese Frau wird in Moritz keinerlei Gefühle wecken. Aber das, was er einmal im Sommer erlebte, wird zum Maß, mit dem nie mehr etwas übereinstimmen wird.
Moritz gab dem unrasierten und leicht nach Zwiebel und Schweiß riechenden anachronistischen Kriegsversehrten aus einem Schwarzweißfilm einen Euro: als Dank für die Erinnerung an Schwarzweißfilme und die Befreiung von Eifersucht. Der Mann nickte freundlich und sagte mit einem weichen, für Moritz undefinierbaren Akzent: »Filen Dancke!«
ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
Franziska übernachtete (nicht so gerne) bei Martin in seiner WG. Auf dem Weg in die Küche begegnete ihr Olaf mit der Zahnbürste im Mund und in Unterhose, sorry!
Dafür wartete Martin bereits mit Tee & Brötchen und sogar einem Anemonensträußchen in der Bierflasche auf sie. Das war diese halbe Stunde am Tag, während der das Sonnenlicht in den Berliner Innenhof durchschlüpfte, der einer Felsenschlucht ähnlicher war als einem Hof. Die Sonne erwärmte das Fensterglas und ließ die Brötchen und die Leberwurst nach Häuslichkeit riechen. Franziska war bei diesem Geruch ihrem (üblichen) Ekel ausgeliefert.
»Iss doch ein Leberwurstbrötchen, das schmeckt, wieso bist du so (stur)«, sagte Martin. »Weißt du übrigens, dass Hitler ein Vegetarier war?« Er wollte ihr das (seit langem) sagen, jetzt war eine (gute) Gelegenheit dafür. »Seit wann bist du Vegetarierin überhaupt?«
»Das ist eine (lange) Geschichte«, sagte Franziska.
»Gibt es dazu tatsächlich eine Geschichte?« Martin schaute sie (spöttisch) an und beraubte sich damit jeder Chance, die Geschichte zu erfahren.
(Das war lange her.) Damals kannte Franziska noch nicht alle Wörter. »Leberknödel! Leberknödel«, freute sich Moritz, als Tante Anita den Tisch deckte. »Was ist Leber?«, fragte Franziska. »Hier!«, Tante Anita legte ihre Hand auf ihren (rechten) Bauch (so dachte damals die kleine Franziska: ( rechter ) Bauch ). Franziska begann zu weinen. Es dauerte (lange), bis man ihr erklären konnte, dass sie jetzt nicht vom Leibe der Tante Anita essen würden, dass auch Schweine und Hühnchen, ja sogar Fische eine Leber haben. »Auch ich?«, wollte sie schließlich wissen. Die Antwort erschreckte sie noch mehr, so, dass sie nie wieder Innereien essen konnte. Als sie Jahre später über Vegetarier erfuhr, erklärte sie sich sofort zur Vegetarierin, was Frank und Onkel Robert immer Anlass zu Spott war.
Das erzählte sie nicht. Sie erinnerte sich wieder an gestern Abend, nach dem Kino, schon da, in der WG. Der dritte Mitbewohner war ins Wohnzimmer getreten, das alle drei fürs Fernsehen, Biertrinken und Chillen teilten, und sprach lachend über den vorgestrigen kollektiven Bordellbesuch, ohne zu merken, dass da außer Martin und Thomas auch Franziska saß. Alle vier wurden verlegen. »Ups, sorry!«, sagte Olaf. Martin und Franziska versöhnten sich im Laufe der Nacht. Aber eigentlich nicht. Franziska war immer noch verärgert. Und – sie versuchte ehrlich zu sich zu sein – in erster Linie
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