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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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wegen Thomas. Als ihr das schließlich bewusst wurde, ging sie, ohne zu frühstücken und ohne ein Wort zu sagen.
    Martin dachte, er hätte sie mit seiner Bemerkung über Vegetarier beleidigt, und dass es schon wieder werden würde.
    Franziska rief bereits im Treppenhaus Tante Anita an und sagte, dass sie fürs Wochenende zu ihr komme (»Schätzchen, das ist doch prima!«).
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Moritz wurde plötzlich der fehlenden Adjektive müde. Er ging aus der U-Bahn und stellte sich vor, was einem Mädchen in einer Großstadt alles passieren kann.
    Ein kaputter Aufzug.
    Ein rowdyhafter Überfall.
    Eine blutige Geiselnahme.
    Eine frevelhafte sexuelle Belästigung.
    Ein unvorhersehbarer Verkehrsunfall.
    Ein dramatischer Zwischenfall in einer Diskothek.
    Ein loser Schachtdeckel, auf den man versehentlich tritt.
    Eine rücksichtslose Polizeisperre wegen einer Demonstration.
    Erleichtert registrierte Moritz, dass keines der Adjektive ihm gelungen war, dass also keine der eventuellen Gefahren ihm überzeugend erschien.
    »Du bist ja endlich da, Gott sei Dank!«, sagte Marina. »Ich dachte schon, es sei etwas passiert, du seiest in einem Aufzug steckengeblieben oder sonst was. Oder eine Polizeisperre in der U-Bahn. Sie hatten am Montag eine im Hauptbahnhof, wegen eines verdächtigen Koffers, und ich bin zu einer Sitzung zu spät gekommen.«
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Ihr fiel ein, dass der Zug in einer Stadt hielt, in der gerade eine Ausstellung mit den Bildern ihres Professors gezeigt wurde. In der Galerie suchte sie zuerst den Raum mit seinen Arbeiten. Er verzichtete auf jede Linie. Nur Farben. Es gab ein grünes Bild von ihm (mit dem Titel »Was taugen die Fischlein im grünen Gezweig«). Und eines in Orange (mit dem Titel: »Über die staubige Erde Tibets schreitet ein Mönch in orangem Gewand und bemüht sich, nicht auf die orangen Glückskäfer zu treten«). Die Farben waren kaum sichtbar. Der Professor behauptete, es gäbe tatsächlich nur eine Farbe, die uns verschieden vorkomme. Diese einzige Farbe zu begreifen, hieße die Weltordnung zu begreifen, das, was hinter der Trughaftigkeit der Welt stehe. Er war nicht sonderlich populär mit seinen Ideen, aber einen gewissen Einfluss hatte er trotzdem. Franziska hatte zuerst versucht, einzelne Farben monologisch darzustellen. Die anderen meinten, sie bemühe sich um ein Lob des Professors und sei genau so wenig dicht wie er. Dann dachte sie an eine Linie, die niemals enden würde, so eine Linie, aus deren Falten und Schlingen die Welt geformt ist. Sie versuchte, diese Linie zu malen, d.h. eine passende Farbe für sie zu finden. Ihr Professor sah in der Linie ein Äquivalent der Farbe und war weiterhin zufrieden. Ihr aber war unklar, wie man eine unendliche Linie innerhalb eines Bildes zeigt und wie man diese Linie von jeder Bedeutung befreit, sogar von der Geometrie. Die Linie als reine Substanz, ein Wesen, das nichts braucht, um verstanden zu werden.
    Sie schritt durch die Ausstellungsräume zwischen all den Linien, Farben, Oberflächen und Formen, zwischen surrenden und blitzenden Bildschirmen, zwischen bunten Fäden und Stäben. Plötzlich ergriff sie eine Gleichgültigkeit, jedes Kunstobjekt wurde auf einmal nichtssagend. Kurzschluss der Wahrnehmung. Ihr war übel von bunten Fäden und Stäben, besonders von den surrenden und blitzenden Bildschirmen, und schwindlig von den Linien und Farben. Die Kunst erwies sich für sie augenblicklich als ein endliches Phänomen, ausgeschöpft und im Leerlauf rotierend. Bedeutet das, dass die Zivilisation ausgeschöpft und nah an ihrem Ende ist? Oder dass sie ebenso im Leerlauf rotiert und den Weltuntergang schon längst hinter sich hat? Sie setzte sich auf eine Bank, ermattet. Dieser Wahrnehmungs-Kurzschluss ließ sie daran denken, dass es mit Martin seit einiger Zeit ähnlich ging. Sie erinnerte sich, wie alles um sie herum Martin geworden war, in die Luft, ins Licht, in alle Töne war etwas von Martin beigemischt worden, so dass alles andere, was nicht Martin war, undeutlich geworden war. Sie wusste das, konnte sich das aber nicht mehr vorstellen . Wie hatte sie seine platten Witze nicht bemerken können. Seine Vorliebe für schlechte Filme. Seine herablassenden Äußerungen über ihre Bilder und überhaupt ihr Studium: Er hatte darauf bestanden, dass sie ins Lehramt

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