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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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wechselte (»was soll das, Künstlerin werden?«). Usw.
    Telefon. Sie ging ins Treppenhaus, unter dem tadelnden Blick eines Museumswächters. Es war Anja Fleißig, die bei demselben Professor war und über ein gemeinsames Projekt für die Semesterausstellung sprechen wollte. Franziska sagte: »Ich habe es mir noch einmal überlegt. Machen wir das doch lieber getrennt. Ich meine einzeln. Ich bin kein Teammensch, sei mir bitte nicht böse!«
    Sie war vorgestern bei Anja Fleißig und Meyer-Drossel gewesen, um Anja die Mappe mit den Entwürfen zu diesem gemeinsamen Projekt zu bringen, an dem sie immer mehr zweifelte, weil Meyer-Drossel sich zu stark in Anjas Ideen einmischte (und sich folglich mit Anjas Hilfe zwischen Franziska und ihren Professor stellte). Meyer-Drossel ging durch das Wohnzimmer mit einem Weinglas in der Hand und sprach. Anja schwieg, rauchte und drückte ihre Zigaretten mit kleinen pickenden Bewegungen aus: in einem Aschenbecher aus einer Schildkrötenhälfte. Franziska stellte sich vor, wie Anjas Zigaretten im zwar fehlenden, aber hierher gehörenden nassen Gekröse zischend erloschen. Die Vorstellung war ekelhaft.
    Meyer-Drossel merkte ihren Blick und sagte:
    »Am Ende des Krieges war der Zoo zerbombt, alles war durcheinander, und meine Großmutter, die in der Nähe wohnte, hat aus dem Terrarium alle Schildkröten geholt. Sie hat sie in zwei großen Säcken nach Hause geschleppt. Dann, ihr wisst ja, alle haben gehungert. Und sie hatte Schildkrötensuppe. Sie machte eingewecktes Schildkrötenfleisch und tauschte es am Schwarzmarkt gegen alles, was Mädchen sonst mit dem eigenen Körper erarbeiten mussten. Sie war eine starke, bemerkenswerte Frau.«
    Anja war von der starken Frau begeistert und bedauerte, dass sie nie eine Schildkröte gegessen hatte. Franziska dachte: Das Wort »ekelhaft« ist deshalb so ekelhaft, weil es kein »c« vor dem »k« hat. In der Tat: Normale Wörter haben es: Ecke, einwecken, Brücke, Glück, zurück, Schneeflocke, neckisch. Aber dieses Wort sieht schon ekelig aus. Nur das Wort »direkt« kann man so lassen, kein »c« soll seine Direktheit stören.
    Meyer-Drossel schenkte sich Wein nach und sagte: »Warum wurden biblische Könige so alt? Sie haben um sich herum Mengen von jungen weiblichen Körpern legen lassen, die ihnen die Lebensenergie spendeten.« Franziska schaute Anja staunend an, sie schien nichts dagegen zu haben, zum Lebensspender für ihren ehemaligen großkotzigen Kunstlehrer umfunktioniert zu werden. Sie beschloss, nicht mehr zu Anja und Meyer-Drossel zu kommen.
    »Nein, wirklich, ich habe jetzt eine neue Idee, ich will das lieber allein ausprobieren.« Franziska hörte das Trennsignal und dachte, dass sie soeben ihre seit der siebenten Klasse beste Freundin verloren hat. Das noch dazu. Mist. Aber nichts zu machen. Es klingelte wieder. Gott sei Dank! Doch es war nicht Anja, es war Martin. Franziska sah seinen Namen auf dem Display, wartete, bis es aufhörte zu klingeln, und schaltete ihr Telefon aus.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Moritz gefiel es, nie auf dem Fernsehturm gewesen zu sein. »Wie?! Du warst nie auf dem Fernsehturm?!«, sagten alle, und er zuckte mit den Schultern, im Sinn von: was hätte ich da zu suchen?
    Aber Marina wollte er nicht absagen und sie um ihre kindliche Freude am Eisessen hoch über Berlin bringen. Sie trafen sich überhaupt oft, als hätte sein Vater seine Rechte, ihn und Franziska zu sehen und ins Kino oder in die Konditorei auszuführen, an sie abgetreten.
    Sie ließen sich einladen und füttern und kamen sich dabei ein wenig dumm vor: kleine Enkelchen einer exzentrischen Oma. Obwohl sie dafür zu alt waren und Marina zu jung.
    Das runde Berlin drehte sich um sie wie ein Planetensystem um die Sonne. Die echte Sonne ließ die Stadt, die von unten grau und schwarz aussah, hell werden, weiß und gelb, mit dem ersten Grün des Frühlings, mit dem rostigen Orange der Dächer. Moritz löste Schicht für Schicht die visuellen Störungen, die durch Luftbildaufnahmen, TV, Filme und Google Maps entstanden und die Stadt unten um sie herum als ein gewohntes Bild erscheinen ließen. Er schaffte das: die Stadt so, wie sie war, zu sehen. Er wurde zu einem Jungvogel, der zum ersten Mal über eine Stadt flog. Durften sie im Osten damals Westberlin einfach so sehen? War der Fernsehturm für alle offen? Oder nur für die Parteibonzen? Soll ich sagen, dass ich mir Sorgen mache,

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