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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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wo Franziska ist? , dachte der Jungvogel, und Moritz sagte: »Jetzt, Marina, was ist jetzt mit dem Schlüsselbein?«
    »Ich habe endlich die Telefonnummer der vermutlich zuständigen Dame im Stift in Tübingen. Ich werde anrufen. Was man alles wegen der Kinder macht! Nein, du musst dir das vorstellen, wie ich im Pragfriedhof angerufen habe. Sie sagen, ihres Wissens seien Mörikes sterbliche Überreste komplett und unversehrt. Sie haben mir Gott sei Dank nicht gesagt, dass ich kommen und mich überzeugen soll. Aber ich glaube ihnen irgendwie, auch ohne Exhumierung.«
    »Aber du hast das doch auch gesehen, du hast das als erste bemerkt!«
    »Was meinst du damit? Meinst du, die Pietisten sammeln die heiligen Gebeine ihrer Dichter? Wozu brauchst du das, sags mir, ich fühle mich ziemlich blöd, wenn ich Leute damit belästige.«
    »Für ein Gedicht«, log Moritz, der das in Wirklichkeit für einen Roman brauchte:
    Als Mörike die Suche im Neckar aufgegeben hatte, kam er ins Gebirge, denn die Schwabenalb war reich an versteinerten Gebeinen. Nach und nach wurde er zu einem fleißigen Sammler paläontologischer Objekte. Das war die Mode der Zeit, deshalb fiel diese seine Leidenschaft nicht auf. Niemand wusste, wonach er tatsächlich suchte.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Endlich da. Noch am nach der Zeitumstellung plötzlich lang gewordenen hellen Tag. Es war noch warm genug, man konnte in dicker Strickjacke auf der Terrasse sitzen. Robert verlangte, dass auch sie von Anita Blutwürstchen bekomme. »Lass das Kind in Ruhe, sie hat genug zu essen«, sagte Anita und schenkte ihr Wein nach. Als Robert nach oben ging, sagte Anita: »Schätzchen, erzähl mir, was los ist, was liegt schief?« Franziska schwieg. Als sie ein Kind war, war Anita für sie ein Wesen voller Zauber: wie sie angezogen war, wie sie geschminkt war, ihr Parfum, wie sie von schick und mondän zu anheimelnd und traulich wechselte. Der helle Schatten dieser kindlichen Verliebtheit war heute noch da. Immerhin beharrte Anita nicht darauf, dass ihr Franziska nun etwas von sich erzählen musste, obwohl sie schon gerne Franziskas Geschichte gehört hätte, (neu)gierig auf die zuckende Wärme ihrer Jugend. Tante und Nichte schwiegen und tranken Wein. Nach einer Weile fand Franziska ihren Faden in Anitas Garten: der Garten bestand aus einer einzigen Linie, die alles war: Stechpalmenhecke, schnelle Schatten, Wein, erste Nachtfalter, erstes Froschgequake, Pflaumenblüten, kühler gewordene Luft, Anitas Perlenkette. »Ich werde morgen in deinem Garten malen, hast du meine Sachen noch?«
    Anita mit ihrem vorsichtigen Konsum aller Sinnenfreuden des Lebens konnte sich nicht vorstellen, dass der Wein, den sie ihrer Nichte nachschenkte, so sehr ihre Gefühle verfeinerte, dass sie dieses Verfahren in Zukunft auf der Suche nach einem Bild immer wieder einsetzen würde, was zu einer Abhängigkeit führen würde, einer zukünftigen Plage für die ganze Familie.
    Viele Jahre später wird sich Franziska an dieses Wochenende bei Anita erinnern und feststellen, dass das ein wichtiger Einschnitt in ihrem Leben war. Obwohl eigentlich nichts passierte. Die gesuchte Linie, die vom lästigen Inhalt befreit wäre, hatte sie damals doch nicht gefunden, nur ihren hellen Schatten.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Es war Franziskas gestriger Tag, den Moritz zu erraten versuchte, bis ihn das runde unter ihm sich drehende Berlin ablenkte. In Moritz’ Vorstellung war dieser Tag (über den er später eine Erzählung schreiben wird) anders und viel abenteuerlicher.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Die kleinen unspektakulären Abenteuer, wie das Wochenende bei Tante Anita, werden in Franziskas Leben immer wichtiger sein als tatsächliche Ereignisse. Das fing mit einer Klassenfahrt an. Nach Wien.
    Schließlich wurde sie zusammen mit zwei Jungs, die in der Nacht besonders heftig gelacht und dann gekotzt hatten, zurückgeschickt. Sie saßen im Flugzeug in der Dreierreihe, Franziska am Fenster. Die Jungs waren schweigsam und finster. Sie fragte sie, ob sie im Leistungskurs Philosophie Wittgenstein hatten. »Ne, nicht speziell. Worüber du nicht sprechen kannst, darüber musst du schweigen«, sagte Andy. »Darauf kannst du scheißen«, sagte Tobias, der an das bevorstehende Gespräch mit den Eltern

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