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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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dachte. Die Waldberge sahen aus der Höhe wie Wiesen aus, nur eine höhere Bergkette blitzte mit Fels und Schnee und war wie ein auf dem Schlachtfeld liegen gelassener Harnisch. Oder wie ein vor vielen Jahren liegen gelassener toter Krieger im Harnisch. Vielleicht war sie kein Mädchen in einem Flugzeug, sondern ein Insekt im Bauch eines Vogels, der über einen toten Krieger flog. Sie war von dieser gleichzeitigen Existenz zweier gleichberechtigter Möglichkeiten gerührt, wie ein Mensch über eine neue Metapher immer gerührt ist. Aus irgendeinem Grund ruft eine solche Zusammenführung einander ferner Dinge eine Gemütserregung hervor, als wäre jeder neue Vergleich ein Hinweis auf eine verborgene Realität, ein Indiz, dass es noch etwas gibt außer diesem komischen irdischen Leben.
    »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Existenz. Nein, meiner Welt. Oder so ähnlich. Auf jeden Fall, je besser du sprichst, desto besser du denkst. Oder umgekehrt. Je schlechter … Das war auch Wittgenstein«, sagte Andy.
    Passt zum weißen Haus und zum toten Krieger , dachte Franziska.
    Mutter und Frank mussten den Flug bezahlen, und als Gegenleistung wollten sie wissen, was sie alles in Wien gemacht hatte und überhaupt, was los war, warum sie mutwillig die Gruppe verlassen hatte. Sie konnte ihnen weder von Meyer-Drossel noch vom weißen Haus erzählen, schwieg und hörte sich stoisch empörte Kommentare an. Bis heute pflegte die Mutter in einem falsch vertrauten Ton davon zu sprechen: Franziska sei schon erwachsen und könne doch endlich erzählen, was damals in Wien los gewesen war.

    ♦

    »Na schön, aber das einzige, was in Wien sehenswert ist, ist das Wittgenstein-Haus«, sagte Meyer-Drossel, der die Klasse als Kunstlehrer durch Wiener Museen führen sollte. Sie standen vor dem Bus, er, Anja und Franziska, die damals in Meyer-Drossel verliebt war und mit Anja jeden Tag darüber sprach. In Wien wollte sie ihm zeigen, wie gut sie für den Ausflug vorbereitet war, und erzählte beim Frühstück in der Jugendherberge, was sie alles im Kunsthistorischen Museum sehen wollte. Meyer-Drossel verspottete sie mit einem seiner arroganten Lehrertricks gegen zu kluge Schüler. Er war verdrossen, weil gestern die Klasse zu viel vom Wiener Nachtleben mitbekommen hatte, obwohl fest verabredet worden war (es gab dazu einen Extra-Elternabend, bei dem auch die Schüler anwesend waren), dass niemand trinken würde, nicht einmal ein Bier, was die meisten absurd gefunden hatten, dem sie aber hatten zustimmen müssen. Er verlachte Franziskas Streberei und sagte nun diesen Satz, »Na-schön-aber-das-einzige-was-in-Wien-sehenswert-ist-ist-das-Wittgenstein-Haus«. Sie ging einfach weg und versuchte mit einem Stadtführer, den ihr Marina aufzwingend geliehen hatte, das Wittgenstein-Haus zu finden, das nicht auf dem Programm stand, obwohl eben Meyer-Drossel das Programm zusammengestellt hatte. Wenn schon, dachte Franziska. Wenn schon das Haus das einzig Sehenswerte ist. Und du kannst dich und die anderen mit deinem Kunsthistorischen Museum bis zum Kotzen vollstopfen.
    Sie verglich die Gassennamen im Reiseführer und auf den Straßenschildern, und auf einmal wusste sie nicht mehr, wo sie war, obwohl sie schon sehr nah am Ziel sein musste. Ein Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Meyer-Drossel aufwies, stieg vom Fahrrad und begann es an eine Laterne anzuschließen. Sie fragte ihn, wo der Rochusplatz sei. »Fünfminuten«, sagte der Mann und zog in ihrem Stadtplan mit dem Zeigefinger fünf verschiedene Routen vom Standort bis zum Ziel. Sie sagte, sie suche eigentlich das Wittgenstein-Haus. »Achtminuten«, sagte der Mann und zeigte sieben verschiedene Wege auf dem Plan. »Also doch zuerst zum Rochusplatz?«, fragte Franziska. Der Mann sagte: »Du kommst zu diesem schönen Platz mit schöner Kirche und Markt. Dann kannst du hier rechts oder hier links gehen. Oder hier geradeaus. Schau, Luftlinie wäre so. Du kannst einfach in diese Richtung gehen, dann wirst du irgendwann, in Achtminuten, da sein.« Er sah Franziska mit dem aufmerksamen und traurigen Blick eines Mannes an, der sie gerne diese Achtminuten begleiten würde, der aber von der Blödigkeit der Situation abgeschreckt wird, was sollst du mit diesem Mischwesen, Halbkind/Halbfrau, wenn es auch eine Schönheit mit braunen Locken und blauen Augen ist und wenn es sich warum auch immer für das Wittgenstein-Haus interessiert, was sollst du damit, es bis zum Rochusplatz führen, ihm

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