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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Heimweh und suchte seine ferne Heimat auf, die durch das privatisierte Öl reich geworden war. In der Nacht strahlte die Hauptstadt der kleinen Republik so viele und so helle Lichter in den Himmel, dass mancher in den dunklen Wolken verirrte Engel, der eigentlich nach Las Vegas wollte, in die Taiga gelockt wurde. Iwans Vater erklärte sich zum geistigen Führer seines Volkes, wurde zu einem Bühnen-Schamanen und trat mit einer riesigen Schellentrommel aus Bärenfell auf. Er gastierte in der ganzen Gegend und wurde von Ölmagnaten und ihren Frauen bewundert und gut bezahlt.
    Der Großvater sagte: »Dieses Arschloch. Der Dieb. Quacksalber.«
    Am Anfang seiner literarischen Karriere bediente sich Iwans Vater der geheimen Texte seines Volkes, der Sagen, der Lieder, der Heilsprüche, der Bannformeln, der Beschwörungen. Schon in seinen Nacherzählungen waren sie verblasst und aller beseelenden Zusammenhänge bar. Sein erstes Buch erschien in seiner Heimat in einer Auflage von 2708 Exemplaren, und bald darauf erschien es in russischer Übersetzung. Denn selbst die kleinsten Völker der Sowjetunion sollten ihre Sprache erhalten, wofür jedes einen Nationaldichter zu haben hatte und, damit alle Völker brüderlich miteinander verbunden waren, alle Nationaldichter ins Russische übersetzt werden mussten. Die Übersetzer dichteten zu gestohlenen Kultbruchstücken ihre Albernheiten dazu, es wurden mehrere Tausende Bücher gedruckt und in die Regale der Buchhandlungen und Büchereien gesteckt. Als das erste Buch des damals jungen Vaters von Iwan erschien, kehrten die Bienen nicht mehr aus der Taiga zurück. Die Zeitungen meldeten ihr rätselhaftes Verschwinden, die Biologen waren ratlos, und Iwans Großvater wusste, dass die Bannsprüche, deren Ruf die Bienen zurücklockte, durch Missbrauch entkräftet worden waren. Er verließ seinen Stamm und ging in die Taiga, um nach Bienen und Bannsprüchen zu suchen. Es war eine große Wanderung, bis zum Ozean. Er stand am Wasser und sprach: Biene, komm zurück. Der Wald kicherte. Der Ozean raschelte. Er sprach: Biene, ich weiß, dass du keine Biene bist. Der Wald schwieg. Der Ozean raschelte leiser. Er sprach: Biene, du bist ein kleiner Stern, dein Bienenkorb ist ein kleiner Himmel. Der Wald begann zu brummen. Der Ozean begann seine Wellen zu erheben. Ich habe den Schlüssel zu deinen Wegen. Ich sperre deine Wege zum Himmel auf. Komm zurück. Ich sperre deine Wege zu und werfe den Schlüssel in den Ozean. Er ging, ohne auf eine Reaktion des Ozeans zu warten. Als er wieder daheim war, waren die Bienen da.
    Er musste auch andere Schäden beheben, die sein Sohn verursacht hatte. Danach schrieb er ihm, dass er sich nicht mehr in der Heimat blicken zu lassen brauche, dass die Tür des Geburtshauses für den Verräter verschlossen sei. Heute führte der Großvater einen verzweifelten Kampf gegen das Oberhaupt der autonomen Republik, das sein Haus (gegen ordentliche Bezahlung) enteignen und darin das Museum des Nationaldichters einrichten, also dem Verräter die Tür seines Geburtshauses mit Gewalt öffnen wollte. Iwan erfuhr all das erst hier, nachdem er Großvaters Ruf gefolgt war und von ihm in die Lehre genommen wurde. Auch als falscher Schamane verursachte Iwans Vater viel Durcheinander. Wenn er auf der Bühne für gute Ernte sang und tanzte, wuchs das Unkraut besonders üppig, und der Großvater schickte Iwan an einen geheimen Ort, an dem die Geister ihr Ohr für die Menschen offen hielten, um die falsch ausgesprochenen Beschwörungen zu korrigieren.
    Das letzte, was der Nationaldichter vor dem Zusammenbruch der gewohnten Ordnung für seinen Sohn beschaffte, war ein Studienplatz im Literaturinstitut. Aber auch diese Traumlaufbahn bedeutete nichts mehr. Die beschworene Freiheit von den Kommunisten kam zu völlig unvorbereiteten Menschen. Alles war erlaubt, nichts war etwas wert (außer Geld). Iwan bekam Geld vom Vater, soff, begann im Funk zu arbeiten, dann fürs Fernsehen, reiste viel und war im Großen und Ganzen zufrieden.
    Bis der Ruf kam. Und Iwan zu seinem Großvater fuhr und fragte: »Hast du mich gerufen?«
    Es dauerte nicht lange, bis ihm das Leben in Moskau unwirklich vorkam, als hätte er nur davon gelesen. Er hörte auch auf zu verstehen, warum er seinen Vater immer so bewundert hatte. Der Vater wurde zu einem Scheinglied in der Ahnenkette.
    Manchmal sah er in einer Talkshow jemanden, mit dem er im Literaturinstitut studiert hatte. Oder sah in einer Zeitung ein Foto, auf dem er

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