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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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nicht. Was weiß ich von diesen Dimensionen. Aber sie brauchen das. Diese Frau hat es tatsächlich hart. Ich werde es dir nicht erzählen, es ist sinnlos, die Menschen mit den Leiden anderer Menschen zu beladen. Mitleid- und Empathiekapazitäten sind nicht unbegrenzt, du wirst deine noch brauchen. Der Frau ist nicht zu helfen. Ich gebe ihr nur Kraft, das auszuhalten. Sie muss durch. Wer weiß. Wie ein besoffener Amerikaner sagte: Schlechtes Karma verursacht notwendigerweise gutes Karma.«
    John erkannte ein Kerouac-Zitat und sagte: »Fluch nicht so viel und komm mit, bald sitzen wir schön auf einem flachen Hügel.«
    Der Schamane sah ihn mit staunender Anerkennung an.
    In der Nacht tranken sie Stutenmilchschnaps, und der Schamane erzählte John von einem Plan des Schamanenbundes und der anderen Mitglieder der weltweiten Vereinigung für spirituelle Angelegenheiten. Sie entwickelten ein unaufdringliches Transportmittel zur Verminderung der allgemeinen Hassgefühle: ein als modisches Training getarnter Aufruf zur Nächstenliebe. Er zeigte verschiedene Ratgeber über Nächstenakzeptanz und einen Flyer, der für das Training warb, und erzählte, dass Menschen dieses Angebot mit Dankbarkeit und großer Bereitschaft annehmen und teures Geld dafür zahlen.
    3. JEDER MENSCH IST EINE ART MEMORY STICK
    Es gab keinen Empfang für Mobiltelefone. Seit Anfang der Woche schon, sagte der Schamane. »Aber warte, es wird schon, man muss Geduld haben. In der Taiga begreift man, was Geduld ist und wozu sie gut ist. Es hilft dir hier diese blöde Auffassung nicht, dass jede Minute ausgebeutet werden muss, dass sie wie die allerletzte gelebt werden muss. Versuch es mit dem Gegenteil: so zu leben, als würdest du ewig leben. Entspann dich. Weißt du, wie die Alten sagten? Was davor war, ist nicht mehr da. Was kommt, ist noch nicht da. Nur das zählt, was jetzt ist. So sagt übrigens auch mein Großvater. Und was ist jetzt? Du siehst vor dir den größten Wald der Welt. Enjoy it. Du wirst nicht zu spät kommen. Niemand kommt zu spät. Wenn schon, dann zu früh.«
    »Wenn schon«, sagte John.
    »Wenn schon. Jeder Mensch ist eine Art Memory Stick, er sammelt Information, die nach seinem Ableben in den Hauptspeicher kommt. Frag mich nicht, wozu, das weiß ich nicht. Niemand weiß, was genau das bedeutet. Mit jeder Entdeckung der Wissenschaft wird das nur noch rätselhafter. Aber glaub mir, es geht um die Qualität dieser Information, je entspannter du sie sammelst, desto klarer wird sie dann sein. Im Dorf steht auch ein Telefon, aber Kinder haben den Hörer abgerissen und in den Froschteich geworfen. Gehen wir ins Dorf, vielleicht waren die aus der Stadt schon da und haben einen neuen Hörer montiert. Ich werde dich meinem Großvater vorstellen. Und dir meine Kinder und meine Frau zeigen.«

    ♦

    Der Großvater sagte John, er solle seine Spiele lieber sein lassen:
    »Wenn du willst, dass wir dir helfen, sag uns, was du brauchst und wer du bist.«
    Ein Memory Stick , wollte John sagen. Was tue ich jetzt, Colonel? Er fragte, wie weit entfernt die Stadt sei. Was er wissen wollte – aber er wusste nicht, wie er fragen sollte –, war: Wo befindet sich das nächste amerikanische Konsulat?
    Der Großvater schwieg. Iwan auch. Ok, Colonel, manchmal ist die Wahrheit das Beste:
    »Ich muss von hier weg. Ich bin Amerikaner, habe mich verirrt, und alle meine Papiere sind weg. Ich brauche ein Konsulat der USA.«
    Der Großvater schwieg. Iwan sagte:
    »Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt? Ich habe dich wie der letzte Idiot für einen von uns gehalten!«
    »Bin ich auch. Habe ich etwa gesagt, dass ich kein Amerikaner bin? Ich habe gesagt, dass ich Mischa Bison kenne. Den habe ich gekannt, schon als du noch ein Dreikäsehoch warst. Und ich habe übrigens gesagt, dass ich John heiße!« John wusste, dass das gemogelt war, die Namen in diesem Kreis von Mischa Bison waren oft etwa »Jimmy« oder »Harry« oder »Andy«. Oder »John«.
    Der Großvater schwieg. Iwan sagte:
    »Und was hast du hier verloren, in der Taiga?«
    »Nichts, wie alle, die hierher kommen. Ich wollte den größten Wald der Welt erleben.«
    Der Großvater sagte: »Hilf ihm. Ich weiß zwar immer noch nicht, was er hier tut, aber er ist in Ordnung. Bring ihn in die Stadt. Du musst jetzt sowieso in die Kraftstelle, es regnet in der benachbarten Republik ununterbrochen, sie haben Hochwasser und ein paar Dörfer sind schon dahin. Ich glaube, dein Vater hat bei seinem Zirkus wieder mal um

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