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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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ein Würstel oder ein Eis kaufen, ihm erzählen, dass Wittgenstein dieses Haus für seine Schwester entworfen und dann nie wieder etwas in der Art unternommen hat, und dich empfehlen, mit dem Gefühl, dich an einer subtilen und ängstlichen Unzucht beteiligt zu haben? Sie nickte und ging, von seiner Traurigkeit angesteckt. Er war wie Meyer-Drossel, aber ohne dessen Häme und Arroganz. Ein Drosselmeier, dachte sie und ging weiter, am liebsten hätte sie noch eine Weile mit dem Mann gesprochen, der kluge und traurige Augen hatte und ihr bestimmt etwas vom Wittgenstein-Haus erzählt hätte. Wäre er nicht so subtil und ängstlich, würde er seinen Meyer-Drossel-Charme anwenden, hätte sie gegen ihn keine Chance.
    Auf dem Markt am Rochusplatz aß sie Strudel und fragte eine Frau nach der Rochusgasse. »Ich weiß nicht«, sagte die Frau, »ich bin aus dem zweiundzwanzigsten« ( was auch immer das heißen soll , dachte Franziska). Sie trat in die Rochuskirche, die leer war, setzte sich auf eine Bank, schlug den Stadtführer auf und versuchte den verbleibenden Weg zu finden, der drei (acht minus fünf) Minuten dauern sollte. Ihr Handy piepste, sie las eine Message von Anja: »wo bist du? melde dich, bevor meyer die polizei alarmiert!« Sie ging aus der Kirche, fand eine Buchhandlung und fragte die Buchhändlerin, wo das Wittgenstein-Haus sei, oder wenigstens die Rochusgasse. »Nicht die geringste Idee«, sagte die Buchhändlerin, »ehrlich, ich bin nicht aus diesem Bezirk.« Eine der Kundinnen wusste wenigstens, wo die Rochusgasse war. Aber das war dann die falsche Gasse.
    Nach einer halben Stunde Herumlaufen dachte sie, dass es eine falsche Idee war und sie das Haus sowieso nie finden würde. Der einzige Mensch in Wien, der über das Haus Bescheid wusste, war wohl der Mann mit dem Fahrrad und dem traurigen Blick eines Kinderschänders, der nicht einmal weiß, dass er einer ist. Sie dachte, dass der Mann mit dem Fahrrad vielleicht Marinas blöden Reiseführer geschrieben und zum Spaß ein fiktives Haus hineingesetzt hatte. Und Meyer-Drossel hat das Haus nie gesehen, hat nur denselben Reiseführer gelesen und – angeberisch wie er war – bloß diesen Satz von sich gegeben, um ihr zu zeigen, wie altbacken und überholt sie mit ihrem Kunsthistorischen Museum war.
    Und da sah sie es.
    Das einfache Haus in Weiß stand mitten im Gewinkel von Gassen, Plätzen, U-Bahnstationen, alten und neuen Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten: plötzlich ein regelmäßiger Linienlauf, mit rechteckigen hochgezogenen Fenstern. Keine Atlanten, keine Maskarone, kein marmornes Schlagobers, keine gewundenen gusseisernen Blumenstängel. Sie erkannte das Haus. Ihre Intuition sagte ihr: Halt. Das ist es. Sie umkreiste die hohe Mauer, hinter der nur der obere Teil des Hauses zu sehen war, und kam zur Tür, die geschlossen war. Neben der Tür sah sie eine Tafel: es war tatsächlich das gesuchte Haus. Darin befand sich das Bulgarische Konsulat: am Freitag für Besuche geschlossen. Es war natürlich Freitag.
    Ein Mann in grünem Pullover, der orangen Weste eines Straßenarbeiters und Fliegermütze führte ein schlankes Fahrrad spazieren und sagte en passant, dass er 50 Cent sehr gut gebrauchen könnte. »Ja, bitte«, sagte Franziska, die das Wechselgeld vom Strudel noch in der Hand hatte. »Oh, ich habe um 50 Cent gebeten und einen Euro bekommen, wie nett!«, sagte der Mann, bestieg sein Fahrrad und verschwand.
    Franziska wusste nichts über Wittgenstein, außer dass er ein Philosoph war. Ob es zu ihm passen würde: lange und vergeblich nach einem Haus suchen, die Suche aufgeben und es in diesem Moment sehen, aber nicht richtig, nur die oberen Teile, weil es von einer hohen Mauer umgeben ist?
    Sie wird in ihren Gedanken diese Stelle immer wieder umkreisen. Aber beide Männer mit dem Fahrrad wird sie vergessen.
    ZEPPELINE ÜBER PARIS / FRANZISKA (FAST) OHNE ADJEKTIVE / AUSFLUG IN DIE HÖLLE / VERLIEBTE AUGEN
    Er fand zwar endlich sein Schlüsselbein, aber erst gegen Ende seines Lebens. Was soll ich jetzt mit ihm anfangen?, dachte er. Das des armen Holder hat mir gute Dienste geleistet. Das meine verschenke ich lieber an einen jungen Dichter, dachte er und starb. Als die Magd und die Familie in der Hand des toten Mörike sein altes Schlüsselbein fanden, dachten sie, es sei nur ein Stück aus seiner paläontologischen Sammlung, die er so pingelig pflegte.
    »Ist Ihnen nicht schwindlig?«, fragte Marina die Kellnerin.
    »Man gewöhnt sich

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