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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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seine alten Bekannten erkannte, die auf einem verschneiten Moskauer Boulevard standen und bunte Spruchbänder hielten. Er wusste zwar noch, wer sie waren, aber sie lebten in einer Welt, die zu einer Parallelwelt geworden war. Nur einer seiner alten Freunde, Mischa Bison, ein Althippie und streunender Philosoph, kam gelegentlich hierher und schickte ab und zu die anderen, die herumzogen, ohne Rast und ohne Ziel, und einen echten Schamanen sehen wollten. (»Was?«, sagten sie zu einander, »Iwan Semjonow? Schamane? Irre!«) Als er John sah, hielt er ihn für einen von denen und fragte ihn, ob er von Mischa Bison käme.
    Er saß in seiner »Schamanenresidenz«, einem geräumigen Holzhaus mit Lehmboden, das etwas entfernt vom Dorf stand. Über den Boden war trockenes Gras geworfen, kleine Fenster waren gegen die Mücken mit Mull überzogen, überall standen Regale mit seinem Schamanenzeug. Er dachte gerade über seinen echten Namen nach, den ihm Großvater versprochen hatte bald zu verraten (»Iwan! Dass ich nicht lache!«, sagte der Großvater, er sagte aber auch, dass die Zeit, ihm seinen echten Namen zu verraten, noch nicht gekommen sei), als der Kräutersammler in Begleitung von John auftauchte. John erinnerte sich an Mischa Bison, den er auf seinen früheren leichtsinnigen Autostoppreisen durch die sich auflösende Sowjetunion öfter getroffen hatte, und sagte, ja, er käme von ihm. Der Schamane nahm den Sack mit den Kräutern, bedankte sich bei dem parfümierten bärtigen Sammler und lud John zum Mittagessen ein. Das übliche Gespräch begann: Kennst du Ljuba Tornado? Hast du gehört, dass Katja Känguru einen Ami geheiratet hat? Echt? Stark! Wassja Sputnik ist gestorben. Was?!
    Die Unterhaltung wurde immer wieder von Dorfbewohnern unterbrochen, die mit ihren kleinen und großen seelischen und körperlichen Schmerzen kamen, von denen sie in ihrer tanzenden Sprache erzählten: schnelle schnalzende Laute oder gedehnte pfeifende Töne. Manche waren Russen aus der benachbarten Stadt und sprachen laut, langsam und in vereinfachten Sätzen, weil sie meinten, der Schamane würde sie sonst nicht verstehen (obwohl er viel gepflegteres Russisch sprach als sie. Oder gerade deswegen: sein Moskauer Russisch klang in ihren Ohren gestellt und gezwungen). Jedes Mal schwieg der Schamane eine Weile, bevor er antwortete: In der Vollmondnacht im Froschteich baden und gleich danach diese Tinktur trinken / Eine Gabe zum heiligen Baum bringen / Wacholderbeerschnaps mit Asche des Wacholderholzes mischen, dazu dieses Pulver tun und drei Mal am Tag einen Esslöffel nehmen. Sie stellten die mitgebrachten Gaben auf einen großen hölzernen Tisch (Geld, Brot, Wollsocken, Stutenmilchschnaps), verbeugten sich und gingen.
    Eine russische Frau mit einem gleichgültigen Gesicht, dem das Leiden alles, was ausdrucksvoll sein könnte, genommen hatte, wollte nur eines wissen:
    »Sag mir, warum ich so viel ertragen muss? Ich will nur das wissen. Warum?«
    »Gut, wenn du das unbedingt wissen willst, ich werde es dir sagen. Aber du darfst es nicht weiter erzählen. Du musst schweigen. Kannst du das? Schwörst du, dass du schweigen wirst?«
    »Ich schwöre.«
    »Gut. Es gibt sieben Dimensionen, in denen wir leben. Sie sind miteinander verbunden, wenn auch für das Bewusstsein undurchdringlich.
    Du sitzt jetzt vor mir in der dritten Dimension.
    In der ersten Dimension bist du Königin, eine schlechte Königin, die schlecht regiert, die gierig und grausam ist.
    In der zweiten Dimension bist du Gefängnisaufseherin. Du machst nichts, was besonders grausam wäre, aber manchmal verpasst du die Gelegenheit, eines Menschen Not zu mildern.
    In der dritten Dimension, in der du und ich nun sprechen, musst du die ersten zwei büßen. Das ist, weil die anderen vier ausgesprochen wichtig sind.
    In der vierten bist du Gärtnerin.
    In der fünften bist du Sängerin.
    In der sechsten bist du Tänzerin.
    Und was in der siebenten passiert, das kann sogar ich dir nicht sagen. Die aber ist die allerwichtigste. Ihretwegen müssen wir in den anderen Dimensionen alles ertragen.«
    Die Frau hatte am Ende dieser Rede ihren längst verlorenen Gesichtsausdruck zurückerlangt, der sich als ernst und mild erwies. Sie stellte ihre Gabe vor den Schamanen, dankte, verbeugte sich und ging lautlos und nachdenklich davon.
    »Sag mal, ist das dein Ernst?«, sagte John, der weniger von dem eben Gehörten verblüfft war, als wegen der Metamorphose im Gesicht der Frau.
    »Ach wo, natürlich

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