Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
Regen gebeten. Der Narr glaubt, unsere Geister müssen nun nach seinem Willen tanzen!«
    4. MEIN HERZ IST KEIN WACHOLDERHARZ
    »Halt!«, sagte der Schamane, «es gibt wieder Empfang! Du kannst es versuchen«, und gab John sein Taschentelefon. John wählte. Er sagte »Natascha«. Er schwieg. Er sagte: »Natascha, es tut mir so leid, ich konnte mich nicht früher melden, was für eine schreckliche Nachricht, ich wusste das, ich hab davon geträumt, Natascha, wie geht es dir, ich bin bald in Petersburg, so schnell wie möglich, in ein paar Tagen, hoffe ich.« Er klappte das schamanische Taschentelefon zu und nahm aus den schamanischen Händen eine Schüssel mit bitterem Sud.
    In der Morgendämmerung ging John aus der Schamanenhütte in die nach Zirbelharz riechende Trübe und sang:
    Fällt die Abendsonne ins Nachtgewässer,
    kannst du nichts dafür.
    Verlässt dein Freund die Welt,
    kannst du nichts dafür.
    Das Herz meines Bruders fiel ins Nachtgewässer,
    ein Wurm kroch heraus aus seinem Herzen.
    Niemanden kannst du an die Welt anketten.
    Das Herz meines Bruders wird ein Würmernest,
    aber auch mein Herz ist kein Wacholderharz.
    Wenn die Morgensonne den Nachttau verlässt,
    kannst du nichts dafür.
    Du kannst einen, der geboren wurde,
    nicht ungeboren machen.
    Hätte die Sonne den Morgentau nicht verlassen,
    hätte sie nicht ins Gewässer der Nacht fallen müssen.
    Mein Herz ist auch kein Wacholderharz.
    Was übel riechen kann, ist kein Wacholderharz.
    Das Leben ist kein Wacholderharz.
    In meinem Herzen schweigt deine Seele.
    Für sie spinnt mein Herz das seidene Blut.
    Mein Herz ist kein Wacholderharz,
    aber ein Seidenspinner.
    Als du, mein Bruder,
    der du jetzt in meinem Herzen schweigst,
    im Sterben lagst,
    trank ich Maulbeerwein in der klaren Gebirgsnacht.
    Als du, mein Freund,
    der du jetzt in meinem Herzen schweigst,
    im Sterben lagst,
    war ich bei einer Frau
    mit kalten Fingernägeln und warmen Fingerkuppen
    und zeugte ein Kind.
    Mein Himmelsfasan mit Sternen-Augen,
    picke die Würmer aus dem Herzen meines Bruders.
    Mein roter Spielzeugdampfer,
    bring die Seele meines Freundes sicher in mein Herz.
    Mein zufälliger Weggefährte, mein Bruder,
    gib mir deinen teerigen Schamanentrank wieder.
    Der Schamane folgte John. Die Strophen von Johns Klagelied waren nur die Blüten der Schamanenkräuter. Sonst wäre er stumm vor Schmerz gewesen und sein Schmerz blütenlos: Ohne Schamanenkräuter hätte er gewusst, dass sein Klagelied nie so vollkommen hätte werden können, wie Fjodors Klagelied für ihn gewesen wäre. Er ging und sang den ganzen Tag und die ganze Nacht. Und trank den teerigen Trank wieder und wieder.
    Nachdem das Lied gesungen war, sah John den Schamanen, der neben ihm schritt, und hörte ihn sagen: »Ich muss sowieso in die Stadt, zur Post, zur Apotheke und noch was vom Supermarkt holen. Ich zeige dir, wo dein Konsulat ist.« Und sie gingen weiter.
    »Bruder«, sagte John, »was kann ich für deine Leute tun? Und für die Frau mit den sieben Dimensionen? Ich habe etwas Geld übrig«, sagte John und trank die Reste des Stutenmilchschnapses, die der Schamane brüderlich mit ihm teilte.
    Der Schamane nahm das Geld und saß am Abend in einem der teuersten Etablissements dieser Stadt, die groß genug war, um ein amerikanisches Konsulat, Niederlassungen einiger westeuropäischer und fernöstlicher Unternehmen und eben ein Etablissement mit 500 Weinsorten im Keller zu haben, bis es kein Geld mehr gab, nur, was er von Anfang an dabei hatte, für die Post, die Apotheke und ein paar Einkäufe. Denn er glaubte nicht an Geld.
    Danach ging er in den nahen Wald und schlief einen tiefen Schamanenschlaf unter einer geheimen Schamanenzirbe. Er träumte vom Wasser, von einem raschen Guss, er träumte, wie das Flussbecken anschwoll, wie sich ein riesiges Tal mit Wasser füllte.
    Er wachte auf und zwang sich wieder zum Schlafen. Er träumte, wie sein Vater vom Wasser weglief und den hundert Flüssen, die auf ihn einstürzten, zurief: »Stehe! Stehe! Wehe! Wehe!«, und wie sein Vater ihm zurief: »Herr und Meister! Hör mich rufen!«
    Er wachte auf, und es war ihm peinlich, dass ihn der eigene Vater »Herr und Meister« nannte, wenn auch nur im Traum. Er sagte: »Seid’s gewesen.«
    Erst dann ging er wieder in die Stadt, um die Post abzuschicken, Medizin und noch ein paar Dinge im Supermarkt zu kaufen und das Internet für die nächsten drei Monate zu bezahlen. Als er zu seinem Stamm zurückkam, war der Großvater zufrieden:

Weitere Kostenlose Bücher