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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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daran.«

    ♦

MEIN HERZ IST KEIN WACHOLDERHARZ
    1. JOHN
    John klopft mit dem Wanderstab kräftig gegen den Boden, um Schlangen zu verscheuchen, und fragt sich, ob es auf dieser Erde noch Menschen gibt. Es ist schon mehrere Tage her, dass der Russe und er in einer Berghütte saßen und zusahen, wie abseits- und runterwärts der Wind riesige Regenfetzen über das Tal trieb. Auf der anderen Seite des Tunnels war alles so anders, als hätten sie mehrere Tausende Kilometer hinter sich gelassen. Sie nahmen einen Pfad nach oben zu einem Pass, wie ihnen die Sprachkundigen geraten hatten. Dort war die Berghütte, und unter ihr die Gipfel der Nadelhölzer. Als der Russe eingenickt war, verließ John die Hütte und nahm einen verwachsenen Pfad den Berg hinunter. Seitdem geht er einfach nach Norden und ist von der immer gleichen Taiga umgeben. Der Wald beginnt zu läuten und nach Parfum zu riechen, und John vermutet, er habe Hungervisionen. Er bleibt stehen und nimmt ein anderes Klopfen gegen den Boden wahr. Während er sich überlegt, ob er sich lieber hinter einer Zirbe verstecken sollte, erscheint ein graubärtiger Mann mit dem Stock in der Hand und einem Sack über der Schulter. Am Stockknauf baumeln kleine Glöckchen. John lächelt sein offenes Lächeln, nickt und wartet, welche Sprache der Mann sprechen wird.
    »Guten Tag«, sagt der parfümierte bärtige Mann auf Russisch, vorsichtig und argwöhnisch.
    »Guten Tag«, sagt John herzlich und aufgeschlossen und lächelt sein Lächeln weiter, »ich bin ein Journalist aus Moskau, ich habe mich verirrt und meine Leute verloren, wir drehen einen Film über die Taiga. Wie weit ist es noch bis zur nächsten Siedlung?«
    »Du hast Glück, dass du mich triffst, hier sind wahnsinnige Tiere in der Gegend. Wenn du dich nicht parfümierst, werden sie dich zerreißen. Im letzten Jahr geisterte hier ein verrückter Menschenfresser-Tiger. Ich sammle übrigens seltene Kräuter, das kann für euren Film interessant sein.« John bekommt vom Kräutersammler ein flaches Fläschchen, in dem er einen Flakon »Krasnaja Moskwa« erkennt: »Rotes Moskau«, ein Parfum, das er (auf Marinas Rat) immer für seine Mutter aus Russland mitgebracht hat.
    2. DER SCHAMANE
    Er erinnert sich noch an die Geschichten, die seiner Abgrenzung von der übrigen Welt vorangegangen sind, bringt sie aber immer weniger in Verbindung mit sich. Man nennt das Schamanenkrankheit. Schamanenruf, so kann es auch heißen. Je nachdem. Je nachdem, wie man solche Dinge bewertet.
    Na gut. Iwan kam damals zu seinem Großvater:
    »Hast du mich gerufen?«
    »Nein. Die Unsrigen, die schon. Aber nicht direkt ich.«
    »Die Unseren?«, sagte er, um etwas zu sagen, ihm war nicht ganz geheuer.
    »Mein Vater war ein Schamane. Sein Vater war ein Schamane. Die Mutter seines Vaters war eine Schamanin. Das ist eine lange Reihe, die ich aufzählen müsste, bis wir den ersten Schamanen unseres Geschlechtes begrüßen würden. Das ist noch zu früh für dich. Seine Begrüßung ist so eine Sache. Wie du heute bist, würdest du sie nicht überleben.«
    »Und mein Vater?« Iwan fragte, und sein Bauch meldete ein Luftlochgefühl. Sein Vater war ein in der Sowjetunion preisgekrönter Dichter, einer von denen, die als poetische Zunge ihrer kleinen Völker gefeiert wurden. Iwans Sprache sprachen weniger als zweitausend Menschen, nach der letzten Volkszählung waren es 1354 Köpfe. Iwan wurde nicht mitgezählt, er gab Russisch als seine Muttersprache an. Jetzt, im Haus seines Großvaters, schämte er sich dafür. Aber was war falsch daran? Er wurde in Moskau von einer russischen Frau geboren, sagte er sich, aber dem Schamanengewissen war das egal. Sein Vater hat seine Mutter früh verlassen, sagte er sich, aber dem Schamanengewissen war auch das egal. Er sprach die Sprache seiner Mutter besser als die Sprache seines Vaters. Aber auch das zählte nicht für sein Gewissen, das sich aber dankenswerterweise nicht besonders laut meldete. Sein Vater war großartig. Großzügig. Als Kind hatte Iwan Spielzeug, von dem die anderen nicht einmal träumten. Später kamen Klamotten aus dem Westen, Whisky, Marlboro, noch später nahm ihn sein Vater »zu den Mädchen« mit, das hieß, in ein illegales Bordell, das auf einer Datscha für sowjetische Alphatiere betrieben wurde. »Die Mädchen« waren sportlich und frech. Als die Sowjetunion plötzlich nicht mehr da war und sich niemand mehr für die poetischen Stimmen der 1354-Köpfe-Völker interessierte, bekam sein Vater

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