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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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einer sang, der, glaube ich, genauso um sein Leben sang, wie ich um meins erzählte, handelten ebenfalls von untreuen Frauen, von Sehnsucht nach Heimat und Mutter, die in der Fremde an deinem Herz nagt, von dummen Zwischenfällen, die einen ins Gefängnis oder ums Leben bringen. Sie wollten einerseits etwas Neues, andererseits konnten sie nur das wahrnehmen, was sie bereits kannten. Die wiederkehrenden Motive der Volkspoesie haben wohl etwas damit zu tun. Wenn ich irgendwann darüber schreiben können werde, ohne dass mir die Hände zittern, werde ich das wissenschaftlich untersuchen. Am besten kommt beim einfachen Volk die Romantik an. Das bedeutet, dass Bilder und Motive, die aus der Volkspoesie in die romantische Dichtung geholt und modifiziert wurden, jederzeit genauso gut zurückgebracht werden können. Das Volk kann sie wiedererkennen und akzeptieren, wie heimgekehrte verlorene Söhne. Manchmal griff ich daneben. Ich erzählte von Baron Münchhausen und wurde wieder als »Faschist« verprügelt, wegen seines deutschen Namens. Ich erzählte trotzdem (nicht aus Trotz, sondern aus Einfallsarmut) von Werther, und sie weinten wie Mädchen in einer Klosterschule. Das ist vielleicht der Ursprung jeder Poesie, dieses scheherezad’sche Erzählen um das eigene Leben. Der Schwächste in der Höhle sang den Jägern von der Jagd und bekam dafür ein Stück Fleisch. Die Krieger verschonten den Krüppel, der sie besingen konnte. Und die Lieder der Kriminellen, ihre Balladen, sind bestimmt von armen Wichten wie mir verfasst.
    Auch Natascha erzählte Geschichten. Als Kind hatte sie ununterbrochen und wahllos gelesen. In ihrem Kopf summten Unmengen an Bildern und Sujets: Insekten über einem Weiher am Sommerabend. Irgendwann merkte sie, dass das ihr einziger Vorteil war, in der Schule, unter den Cousinen, in der Kommune. Noch später halfen sie ihr, das zu verstehen, was Fjodor sagte (eher in ihrer Gegenwart als direkt zu ihr), und sich in den oft verwirrenden Gesprächen seiner Freunde zu orientieren. Das Englische, das sie in ihrer schäbigen Kindheit unklar wozu erlernte, half ihr, eine Programmiererkarriere schnell und sicher zu meistern. Und nun stellte sich heraus, dass es nicht nur dafür gut war. »Marina, ich muss dir etwas sagen«, sagte sie und schwieg eine Weile.
    Dann sprach sie wieder: »Als ich im Krankenhaus am Rand seines Bettes saß und seine Hand hielt, fühlte ich, wie er mir entglitt. Als wandle er durch eine unsichtbare Membran in eine andere Dimension. Zu den Galaxien, Sonnen und Milchstraßen. Und ich sah das und konnte es nicht verhindern. Ich habe alle meine Kräfte konzentriert, um ihn nicht durch die Membran gehen zu lassen. Dann schlief ich ein. Dann war er tot.«
    In allem, was sie sagte, schien eine Verschrobenheit durch, die an Fjodor denken ließ. Als wäre sie, Natascha, diese andere Dimension, in die Fjodor der Welt entglitten war, durch die Membran ihrer dunklen, aber blassen, blutarmen Haut. Marina fiel diese Verschrobenheit bereits auf, als sie aus Berlin anrief, dass sie endlich nach Petersburg komme, und Natascha am Telefon fragte, wie es ihr ginge. »Weißt du«, sagte Natascha, »tagsüber geht es mir gut, aber wenn ich in der Nacht erwache, ist alles wieder da. Ich weiß jetzt, warum die meisten schlafenden Menschen leidende Gesichter haben. Dann kommt wieder der Tag und bringt neue Gemeinheiten, und du musst durch. Der Tag dreht sich wie ein Rouletterad, und du vergisst im Rausch des Spiels dein Elend.« Marina wollte damals etwas Tröstliches sagen und konnte nichts Besseres finden als: »Du hast das wunderbar formuliert, ich verstehe, was du meinst!«, und als sie auflegte, spürte sie eine Sehnsucht nach Natascha, nach dem Mädchen, das Fjodor liebte (im Sinne, dass es ihn liebte, und im Sinne, dass er es liebte) und das sie nie ernst genommen hatte, erst jetzt, als es zu spät war, war sie mit Natascha einverstanden. Sie dachte, dass es fast nie dazu kommt, dass eine Sehnsucht das einholt, wonach sie jagt. Trotz leichter unvermeidlicher Enttäuschung stellte Marina fest, dass Nataschas Gegenwart kein Unbehagen mehr hervorrief, das früher immer da war, weil sie oft nicht wusste, worüber sie mit ihr sprechen sollte. Seltsamerweise löste der abwesende Fjodor diese Befangenheit.
    Natascha erzählte: »Und jetzt sind wir auf verschiedenen Seiten dieser vorübergehend undurchdringlichen Membran. Ich habe als Kind einen Film gesehen, vielleicht war das kein guter Film, oder vielleicht

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