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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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von Platanen beschatteten Pariser Boulevard gekauft hatte. Neben Pawels Tasse stellte sie ein Schälchen voller bunter Tabletten und Pillen.
    Marina wartete auf ein chinesisches Tee-Gedicht, weil jedesmal, dass sie hier zum Tee war (zu selten, es war nicht einfach, entweder Pawel war krank, oder sie waren verreist oder zu sehr mit sich und ihrer Arbeit beschäftigt, dafür aber gestalteten sie jede Einladung als ein Geschenk, auch die für heute, sie haben sich Mühe gegeben, ihren Flug aus Paris über Deutschland zu buchen, um mit Marina zu fliegen, sie zu sich einzuladen, zu beschenken, über Fjodor zu sprechen, zumal Marinas Mutter mit ihrem Theater, wo sie in der Kostümgestaltung arbeitete, verreist war), jedesmal holte Pawel für sie ein Tee-Gedicht aus seinem Gedächtnis. Auch heute: »Dampf steigt auf vom Tee und lässt die weißen Haare der Freunde schweben, die ihre gemeinsamen Freunde verloren haben.«
    Marina dachte wieder daran, dass sie nicht zu Fjodors Beerdigung gekommen war.
    Tonja überlegte sich, ob sie Marina etwas sagen oder sie für eine Weile mit diesem Gedicht lieber allein lassen sollte.
    2.
    Natascha war pünktlich. Sie klingelte und die Pendeluhr im Schlafzimmer schlug sieben. Marina öffnete die Tür und begann zu weinen, weil sie Natascha jetzt zum ersten Mal seit Fjodors Tod sah. Natascha, blass, mit trockenen Augen, nickte verständig.
    Sie bewegte sich in Marinas Wohnung, die sie zum ersten Mal betrat, mit der Sicherheit einer alten Freundin. Sie nahm die Tassen aus dem Regal. Sie fand sofort den Tee, den Zucker, das Gebäck. Sie wischte den Tisch. Marinas Wohnung war verwahrlost, seit ihre Mutter zu ihrem Freund gezogen war.
    Seltsamerweise wiederholte Marinas Mutter den Lebensabend der eigenen Mutter, die sich im Alter, Jahrzehnte nach dem Tod ihres Mannes, verliebt hatte und mit ihrem Geliebten zusammengezogen war. Es schien der damals siebzehnjährigen Marina absurd, ein weißhaariges Liebespaar. Aber sie war gerne zum Teetrinken bei ihnen: Silberlöffel in Teegläsern mit silbernem Teeglashalter. Es hieß: in einem hohen Glas, das seinerseits in einem metallischen Glashalter stand, durfte der Löffel drin bleiben (im Unterschied zu einer Tasse-Untertasse-Situation). Der Löffel war sehr heiß, die Finger schnell weg. Bonbons und Nüsse in alten Sèvres-Schälchen. Das Paar wollte nicht heiraten. Großmutters – wie man heute sagte – »Freund«, damals hieß das »bürgerlicher Mann«, meinte dazu: »So was Blödes.« Nach dem Krieg war er Offizier in Berlin gewesen, deshalb war er begeistert, dass Marina Germanistin wurde. Eine seiner Lieblingserinnerungen war ein Konzertbesuch im zerbombten Berlin: Das Publikum war zum Applaus aufgestanden, und es hatte lauter gedonnert als der Applaus selbst: die Partituren, die sie auf den Knien hatten und (wozu, fragte sich Marina) parallel zur Musik lasen, waren hinuntergefallen. Die Bewunderung für die deutsche Kultur lebte in seinem Bewusstsein in friedlicher Nachbarschaft mit dem tiefen Groll gegen deutsche Barbarei, und den deutschen Touristen warf er finstere Blicke hinterher, wenn es Männer seines Alters waren, in denen er die Mörder seiner Familie sah.
    Natascha stellte vor Marina die Tasse hin, die früher, als Marina hier als Tochter ihrer Eltern wohnte, »Marinas Tasse« hieß. Als wäre zwischen ihnen eine wortlose, aber mit vielen wortreichen Missverständnissen erkaufte Vertrautheit. Als wäre Natascha eine Freundin, die sich in Marinas Haushalt und Leben auskannte, eine Freundin, die Marina nie gehabt hatte. Tonja war erstens zu vollkommen und zweitens ohne Pawel unvorstellbar. Die Schulfreundin Lisa mit ihren vier Kindern, einem Mann, zwei Liebhabern, drei Katzen, zwei rotwangigen Nymphensittichen und einem Aquarium war ihr fremd geworden. Nur dass Lisa in Marinas Küche heute noch mit derselben Sicherheit wirtschaftete wie soeben unerwartet Natascha. Sabine hätte das Zeug dazu, aber blöd wäre das schon: die gewesene Frau des eigenen Mannes zur besten Freundin zu erklären.
    Natascha berichtete: »Nach Fjodors Tod habe ich gegoogelt, welchen leichten Freitod es gibt. Und nichts gefunden. Dann hat Mascha im Nebenzimmer geweint. Verstehst du, ich habe erst an sie gedacht, als sie geweint hat. Und mich geschämt, dass ich sie allein lassen wollte, nicht gerade wollte, ich hatte an sie einfach nicht gedacht.«
    Natascha berichtete: »Ich wollte, dass alle aufhören zu leben, weil Fjodor aufgehört hat zu leben. Dann aber,

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