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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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als ich begriffen habe, dass es ab und zu allen so geht wie mir, bekam ich so viel Mitleid mit allen, dass ich daran fast erstickte.«
    Natascha berichtete: »Es war wie in einem Tunnel: als stünde ich da, wo er als Sackgasse endet, dicht an der Sackwand, und ein Zug führe auf mich zu. Der dann tatsächlich herankam, um mich zu zerquetschen.«
    Natascha berichtete: »Kennst du die Geschichte von Pygmalion und Galatea? Das war ein Bildhauer, der in eine seiner Statuen verliebt war. Und da er der Venus ein Geschenk brachte, machte die, dass Galatea zu Leib und Blut wurde – die Arme übrigens, wie schön wäre es, eine Statue zu bleiben. Sag mir, wozu bin ich so geworden, wie ich geworden bin? Was mache ich jetzt mit mir? Ich muss dir etwas sagen, was dich erstaunen wird, ich muss dir etwas gestehen«, sagte Natascha, schwieg aber, Marina drängte sie nicht zu sprechen.
    Natascha blieb in der Galatea-Geschichte gefangen, es passierte ihr oft, dass sie, wenn sie schon anfing, über etwas zu sprechen, einfach nicht aufhören konnte und weit hinaus über das Thema oder die Situation sprach. So sagte sie nach dem Schweigen: »Ja, und dieser Pygmalion hatte davor einen Ekel vor Frauen bekommen, es gab verdorbene zügellose Frauen da, die ihm nicht gefielen. Er lebte allein, er hatte nur einen Papagei, der ihm jeden Morgen guten Morgen und jede Nacht gute Nacht wünschte. Aphrodite verwandelte diese schlechten Frauen in kalte Steine, sie wollte sie wegen irgendetwas bestrafen, ich weiß nicht mehr, weswegen. Ich habe gedacht, als ich das gelesen habe, dass es eben dieser Stein war, aus dem Pygmalion sich eine Frau frei schlug. Fjodor meinte, sie seien zu Kies geworden.«
    »Er hat sie aus den Kiessteinen zusammengeklebt«, sagte Marina und dachte, dass Natascha ihre Geschichten so erzählte, wie es die armen gebildeten Kinder in den Sommererholungslagern machten, um von anderen Feriengenossen in Ruhe gelassen zu werden. So hat wohl auch Fjodors Großvater in seinem Straflager erzählt, um von den Kriminellen nicht umgebracht zu werden. Natascha fand in Fjodors Unordnung die Aufzeichnungen seines Großvaters über jene Zeit, die sie kopierte und an Andreas schickte, für sein Buch über die Nachkommen der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert. Fjodors Großeltern wären höchstwahrscheinlich im von den Deutschen belagerten Leningrad verhungert, wären sie nicht in die kasachische Steppe geschickt worden, um nicht zur Kollaboration mit dem Feind, sollte der Feind die Stadt erobern, verleitet zu werden (»Man hat uns aus einer Hölle in eine andere versetzt«, schrieb er später).
    Die Aufzeichnungen blieben unvollendet. Das dicke schwarze Heft war nur zu einem Drittel beschrieben. Auf der ersten Seite stand:
    Versuch über die kasachische Steppe
    Es folgten fragmentarische Erinnerungen. Auch das:
    Die Zeit mit den Kriminellen war die schlimmste. Es dauerte nicht lange und war die Folge irgendeiner bürokratischen Verirrung. Oder jemand hat mich wegen etwas, wovon ich nichts weiß, denunziert. Auf jeden Fall blieb Maria Karlowna mit den Kindern, Gott sei Dank, in unserer Siedlung, und mich steckte man für zwei Monate zu den Kriminellen, ohne zu erklären, warum, und brachte mich dann zurück, ebenso ohne jegliche Erklärung. Als ich dort auf der Pritsche lag und ein Bluterguss in Form eines menschlichen Körpers war, sprach ich laut den Psalm 88:
    Denn meine Seele ist voll Jammers,
    und mein Leben ist nahe dem Tode.
    Ich bin geachtet gleich denen,
    die in die Grube fahren;
    ich bin ein Mann, der keine Hilfe hat.
    Ich liege unter den Toten verlassen
    wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen,
    deren du nicht mehr gedenkst
    und die von deiner Hand abgesondert sind.
    Du hast mich in die Grube hinuntergelegt,
    in die Finsternis und in die Tiefe.
    »Was laberst du da«, fragten meine Peiniger und verlangten nach mehr. Ihr Hunger nach Information und Unterhaltung war so groß, dass sie auch mit den Psalmen vorlieb nahmen. Als ich bald merkte, dass sie die Psalmen zu langweilen begannen, trug ich »Zigeuner« von Puschkin vor, und das fand Anerkennung. Dann verlangten sie, dass ich ihnen einfach etwas erzähle, »normal«, also keine Verse. Ich begann mit dem »Gefangenen im Kaukasus« von Tolstoj, dann erzählte ich »Schuld und Sühne« nach. Die nächsten zwei Monate verbrachte ich wie Scheherezade: um mein Leben erzählend. Manche Sujets kannten sie allerdings und sagten: Ja, ja, das kennen wir alles. Ihre Lieder, die ihnen

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