Mörikes Schlüsselbein
das Treppenhaus etwas sauberer geworden, die Treppenkatzen wurden verjagt, und Tonjas Parfum mischte sich nicht mehr mit der Katzenpisse, sondern mit dem Parfum der Trainingsteilnehmerinnen und dem Aftershave der Trainingsteilnehmer.
Der Türsteher, den Pawel als persönlichen Hausdiener ansah und diese seine Ansicht regelmäßig mit Trinkgeld unterstützte, half dem Taxifahrer die Koffer nach oben zu bringen.
Marina kam noch einmal herunter, weil Pawel das Buch im Auto liegen lassen hatte. Der Taxifahrer fragte sie, wer der Mann sei. Als er Marinas »Ein berühmter Wissenschaftler…« hörte, fügte er hinzu: »… gewesen. Na ja, wir alle werden irgendwann vergangen sein.« Marina war überrascht, dass das über Pawel gesagt wurde, den sie bedingungslos bewunderte. Seit sie ein Kind war und immer noch. Seit sie ein Kind war, ist er kaum anders geworden, dieselben ergrauten Locken, dieselben gemessenen Bewegungen, in denen man eine vorsichtige Unsicherheit erraten konnte, dieselben aufmerksamen Augen, als wäre er nie anders gewesen, vielleicht sogar so geboren: ein alter Mann mit dem Gesicht eines klugen Kindes. Immer noch war sie glücklich aufgeregt bei jedem Besuch hier, wie ein Kind vor Weihnachten.
Pawel ging in sein Arbeitszimmer, um die Bücher, die er mitgenommen hatte, in die Regale zu stellen. Tonja holte aus ihrem Koffer ein Dutzend Taschentücher mit dem Buchstaben M im Oval aus Brüsseler Spitze und sagte: »Das ist für dich. Und schau, was ich für Natascha, und hier, was ich für Mascha gekauft habe. Weißt du, woran ich jetzt die ganze Zeit denke? Mir gehen langsam die Leute aus, denen ich Geschenke mitbringen kann. Die einen sind tot, die anderen leben Gott weiß wo, Victor in Chicago, du, das verstehe ich nicht ganz, wo. Es war zum Heulen, besonders in Paris, das voll von schönen Kleinigkeiten war, ich musste immer denken: ›Das könnte ich Fjodor mitbringen, und das hätte meine Großmama so gefreut.‹ Ich habe sogar etwas für Nataschas Freundin Janis, ich vermute, du kennst sie nicht, sie hat Natascha nach Fjodors Tod sehr geholfen. Ein komisches Mädchen. Sie heißt nicht mehr Janis, sondern Amy und trägt ihr Haar toupiert und hat ihren Arm tätowieren lassen. Das ist für sie:« Tonja zeigte ein Poster von Amy Winehouse.
»Kommt Natascha mit ( Pawel stellt fest, dass ihm der Name fehlt ) ihrer Tochter? Ich meine zu Fjodors Gedenkabend. Kommt sie mit ( wer sagt mir, wie sie heißt? ) der Tochter?« Eine Leere anstelle des Namens. Was, wenn sie breiter wird und uferlos und alles überschwemmt. Er braucht diesen Namen nicht. Es ist kaum wahrscheinlich, dass er und Nataschas Tochter einander auf Augenhöhe treffen werden. Dass er sie in dem Alter erleben wird, in dem sie in der Lage sein wird, ihn wahrzunehmen. Die Tatsache, dass er ihren Namen vergessen hat, bedeutet nur, dass er und sie verschiedenen Dimensionen angehören. Er kann Hunderte von chinesischen Gedichten auswendig. Er versteht einiges jetzt viel besser als noch vor zehn Jahren: Viele Knoten seines Denkens sind aufgelöst, und sein Buch über chinesische Poesie mit einer großen Auswahl an von ihm übersetzten Gedichten wird es wert sein, gelebt zu haben. Falls ihm noch ein bisschen Zeit bleiben wird, es zu vollenden. Nur meldet sich immer öfter diese Leere anstatt eines Wortes, eines Namens, eines Datums. Oder, wenn ihn Tonja morgens nach der Uhrzeit fragt, sagt er »liù di ǎ n bàn« und erst nach einer Viertelstunde kommt er auf »halb sieben«. Eine langsame Reduzierung der Welt. Als bräuchte er immer weniger von dieser Welt und eine fürsorgliche Hand räumte alles Überflüssige beiseite. Und in der Tat: wozu braucht er den Namen des Mädchens, das er nie richtig kennenlernen wird. Wozu braucht er Dinge, die er ohne Brille nicht sieht: kleine Risse an alten Möbeln, Falten auf dem eigenen Gesicht, Staub, Flecken (natürlich ist es beschämend, dass man auf die eigene Kleidung immer aufpassen muss, aber er persönlich als denkender und fühlender Mensch vermisst einen Fleck nicht, es macht ihm nichts aus, dass er diesen Fleck nicht sieht, dumm ist nur, dass die anderen ihn sehen). Alles unbrauchbares Zeug, das einem das Alter wegnimmt. Wie aber ist ihr Name?
»Nein, sie kommt ohne Mascha, sie hat nun jede Menge Verwandte zu Hause, die passen auf die Kleine auf«, sagt Tonja, die ihm immer das fehlende Wort gibt, als wüsste sie alle seine Gedanken.
Pawel nickt.
Tonja brachte Tee und Gebäck, das sie auf einem
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