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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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›Würden Sie sich in Russland in so einer Situation beschweren? Ja? Das glaube ich nicht. Würden Sie sich in den USA beschweren? Das glaube ich noch weniger. Nur wir, die dummen Deutschen, sind so nett und lieb, dass niemand vor uns Angst hat!‹ Ich war entrüstet. Aber wenn ich in Ruhe darüber nachdenke: Sie hatte recht. Das ist absurd. Ich meine, nach allem, was im vorigen Jahrhundert geschah, ist das völlig absurd. Keine Ahnung. Sie hatte recht. Und dann im Flugzeug war meine Sitznachbarin eine Deutsche, eine ältere Dame, die mir von ihrem dreizehnjährigen Enkel erzählte, der in Israel einen Mann getroffen hatte (in einer Ausstellung, glaube ich, egal), der als einziger in der Familie nicht vergast wurde. Er hat ein Jahr lang im Wald überlebt. Allein. Ein kleines Kind. Mit Hilfe der Kenntnisse aus den Indianerbüchern, die seine Mutter (die vergast wurde) ihm vor dem Krieg vorgelesen hatte. Als der Mann erfuhr, dass der Enkel ein Deutscher war, weigerte er sich, mit ihm zu sprechen. ›Ich hoffe, mein Enkel wird das verstehen, wir Deutsche haben so viel Leid verursacht‹, sagte sie freundlich. Und ich sagte, das Wissen sollte weitergegeben werden, aber Ressentiment ist sinnlos, das Kind hat nichts damit zu tun. Aber weißt du, ich sollte das nicht sagen. Irgendetwas daran ist falsch. Wüsste ich nur was.
    Keine Ahnung. Hier in Russland fragt man mich immer noch, wie die Deutschen damit leben. Die Wahrheit ist: Sie leben nicht damit.«
    John war froh, dass sie nicht mehr über den Major sprachen, und hoffte, dass die nüchterne Marina morgen nichts mehr darüber wissen wollen würde.
    »Du solltest das nicht sagen, das ist völlig klar«, sagte er. »Wir können nicht im Namen der Opfer, die nicht wir sind, verzeihen.«
    »Und der Major?«, fragte Marina.
    Fjodor lachte in seiner Gartenlaube.
    8.
    »At great heights, alcohol has quite a different, namely a much stronger effect, please be careful«, die Stimme der deutschen Flugbegleiterin wurde von einem russischen Fluggast unterbrochen:
    »Was sagt sie? Die Deutschen, die geizen mit den Getränken, was?«
    Eine andere Frauenstimme, die den Satz ins Russische dolmetschte: »Alkohol hat in der Höhe eine ganz andere, nämlich viel stärkere Wirkung, seien Sie bitte vorsichtig.«
    »Was, meint sie, werde ich tun, wenn ich weiter trinke? Hat sie Schiss?« Während hinter dem Vorhang zwei Frauen, die Flugbegleiterin und die Dolmetscherin, nach einer friedlichen Lösung suchten, freute sich Andreas, dass er nicht Business Class flog und die bürgerliche Ruhe der Economy genoss.
    »No, the wine is good and expensive, but the wine tastes different at high altitudes. Tomato juice tastes best while flying at high altitudes«, sagte die Flugbegleiterin hinter dem Vorhang.
    «Was sagt sie? Die Deutschen, die geizen wieder mit den Getränken?«
    Dann wieder die schülerhafte Stimme der Dolmetscherin: »Sie sagt, der Wein sei gut und edel, aber die Weine schmecken in der Höhe anders. Am besten schmeckt übrigens in der Höhe Tomatensaft.«
    »Spinnt sie? Ich? Ich soll Tomatensaft trinken?«
    Wer gibt mir die uniformierten Göttinnen meiner Kindheit zurück, dachte Andreas, als er die hübsche, aber entzauberte Flugbegleiterin sah. Er fragte sich, welche Frau er sich gewünscht hätte, gleich jetzt, im Flugzeug, hätte er freie Wahl aus allen Frauen der Welt gehabt. Doch kein Frauenbild, das er sich vorzustellen versuchte, konnte die Schicht aus Mattheit und Trägheit durchdringen, welche vom Mangel an Schlaf, von seinen Ängsten und diversen Dummheiten, die sich als Gedanken ausgaben, verursacht und vom Wein in großer Höhe verstärkt wurden. Er dachte an die Stewardess. An eine Reihe von Schönheiten aus dem Magazin, in dem seine Sitznachbarin blätterte. Er dachte »Laura« und vermisste sie nicht, trotz des Wortes »Laura«, das er dachte.
    Wieder Stimmen aus der Business Class:
    »Most sins are granted remission of, anyway, so don’t worry. At the Last Judgement, everything will get mixed up anyway.« [1] »Was sagt sie? Womit sparen die Deutschen nun wieder?«
    »Sie sagt: Bitte schön, mein Herr, wenn wir gelandet sein werden, können Sie sich gerne beschweren.«

    ♦

    Die Reihe von imaginären Schönheiten begleitete ihn zur Gepäckausgabe. Er hatte zwei Trolley-Koffer, einen aus zerkratztem Plastik und einen anderen aus dunkelgrünem Stoff, mit vielen Außentaschen: ein Sprossenfenster mit zugeklappten Läden an jedem kleinen Flügel. Die Stewardessen,

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