Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
weinte, weil sie ihrer eigenen Tochter nicht glaubte und fürchtete, Inga sei der Verstand abhandengekommen. Eines Abends, als Inga die Fragen der Eltern exakt so beantwortete, wie sie es zuvor getan hatte, sprang ihre Mutter plötzlich auf und schrie: „Du bist verrückt, Inga. Versuch dich zu erinnern, was wirklich passiert ist. Deine blühende Fantasie bringt uns nicht weiter. Sag uns die Wahrheit. Oh, Kind! Sag uns einfach die Wahrheit.“
„ Es … Es ist die Wahrheit“, stammelte Inga, entsetzt von der Reaktion der Mutter. Diese hielt es nicht länger aus.
„Das Kind ist völlig verrückt. Sie ist durchgedreht“, brüllte sie und verließ das Haus.
Inga war zum Heulen zumute. Sie hatte keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Eigentlich nichts. Dennoch glaubte ihr scheinbar niemand.
Der Vater legte dem (verzweifelt der Mutter hinterherstarrenden) Kind behutsam den Arm auf die Schulter und zog es zu sich ran.
„Du bist nicht verrückt, Inga, hörst du“, flüsterte er. „Ich habe die Möwen selbst gesehen und was sie versucht haben, dir anzutun. Ich glaube dir.“
Unfähig darauf etwas zu entgegnen oder nur annähernd in Worte fassen zu können, welcher Mix aus Emotionen in ihrer Brust tobte, ließ sie den Tränen freien Lauf.
Ihr Vater glaubte ihr also. Das war wichtig. Allerdings war er nicht immer zur Stelle. Während er damit begann, Nachforschungen anzustellen, fühlte sich Inga schutzlos.
Mit ihrer Mutter redete sie kaum noch. Und weil weiterhin eine strickte Ausgangssperre für Kinder galt, konnte sie nicht aus dem Haus. Anfangs blieben ihr deshalb die abschätzigen Blicke der Westenschouwener erspart, die allesamt eine eindeutige Sprache sprachen. „Guckt euch das verrückte Kind an, das nicht erzählen will, wie der Mörder der anderen Kinder aussieht und stattdessen lieber Lügenmärchen erzählt.“ Doch das war bei Weitem nicht Ingas drängendstes Problem. Denn sobald sie allein in ihrem Zimmer hockte, machte sich die Stimme wieder bemerkbar, die sie an jenem unseligen Abend zum ersten Mal vernommen hatte. Teils leise und freundlich, teils fordernd, bedrängend und laut. Zunächst versuchte Inga sie zu ignorieren, starrte aus dem Fenster und redete sich ein, dass das, was sie hörte, nicht real war. Davon allerdings ging die Stimme nicht weg. Im Gegenteil: Sie begann, Inga auszulachen und zu verhöhnen. Das traf Inga sehr, weil sie sich nicht traute, darüber zu sprechen.
Sie hatte erkannt, dass d iese Stimme nur in ihrem Kopf war. Nur sie konnte sie hören. Wenn sie ein Wort darüber verlor, würde man sie garantiert für noch verrückter halten und am Ende würde nicht einmal ihr Vater ihr Glauben schenken.
Nein, sie musste damit selbst klarkommen.
Natürlich war sie nur ein Kind, aber auch Kinder mussten zuweilen selbst mit Dingen fertig werden, die sie belasteten.
Die Stimme war Ingas Problem.
Ein paar Tage nach dem Vorfall am Strand ging das Mädchen dazu über, sobald die schreckliche Frau sich zu Wort meldete, verschiedene Kinderlieder anzustimmen und wurde beim Singen immer lauter, bis sie ausschließlich sich selbst hören konnte.
Eine Woche lief das so, dann kam ihre Mutter eines Morgens h ineingestürmt, schrie sie an und verbot ihr fortan das Singen.
Es war der Tag, an dem Ingas Vater unerwartet früh nach Hause kam und beinahe elektrisiert durchs Haus tigerte.
Selbst beim Abendbrot aß er kaum einen Bissen und konnte nicht ruhig sitzen bleiben.
Nach dem Essen eröffnete er: „Ich habe etwas herausgefunden. Etwas, was unserer Inga vielleicht hilft.“
Die Mutter verdrehte die Augen. „Pat, bitte nicht. Ich habe keine Kraft mehr dafür.“
„E s ist wirklich wichtig und vielleicht hilft es tatsächlich.“
„Und , das willst du jetzt vor der Kleinen hier genüsslich ausbreiten?“
„Ja … äh … Nein. Ich meine, wieso denn nicht?“
„ Godverdomme , Pat! Weil du ihre Wahnvorstellungen damit verschlimmerst“, fauchte sie.
Inga machte große Augen. Sie schaute abwechselnd nach links zum Vater und nach rechts zur Mutter. Letztere schüttelte niedergeschlagen den Kopf, als sie bemerkte, auf welche Art und Weise Inga sie ansah.
„Los, ins Bett mit dir. Es ist schon spät. Dein Vater und ich müssen uns unterhalten. Eine Erwachsenenunterhaltung führen …“
Inga hasste das Wort. Erwachsenenunterhaltung. Ihre Mutter benutzte es ständig, wenn sie kurz darauf lautstarken Streit mit ihrem Vater anfing.
Inga mochte nicht, wenn ihre Eltern sich
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