Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
das alles bedeutete und gleichzeitig hatte sie eine sehr genaue Ahnung davon, dass sie Stunden zuvor nur knapp dem Tod entronnen war. Mehr noch: Sie wusste es. Sie wusste es, weil ihre beste Freundin vier Tage zuvor weniger Glück gehabt hatte. Natürlich hatte man keinem Kind des Dorfes erzählt, was genau mit den anderen Kindern geschehen war. Man hatte lediglich berichtet, dass sie in einem schrecklichen Unfall gestorben seien und am selben Tag die Schule geschlossen. Seitdem hatte Inga zu Hause in ihrem Zimmer gesessen. Ihre Eltern hatten ihr strengstens verboten, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Und um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, hatten sie die Tür zu Ingas Zimmer verschlossen gehalten. Trotzdem war es Inga an diesem Abend gelungen, aus dem Haus zu kommen. Sie wusste nicht, wie das geschehen war. Fest stand nur, dass sie am Strand gewesen war und dort all die schrecklichen Dinge erlebt hatte, die einem allzu realen Albtraum geglichen hatten.
Inga schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte diese Erinnerungen nicht. Sie wollte nicht mehr sehen, was geschehen war, nachdem die freundliche, flehende Stimme in ihrem Kopf sich in das grausigste Geräusch gewandelt hatte, dass sie bis dahin in ihrem jungen Leben zu hören bekommen hatte.
D ie Bilder in ihrem Kopf wichen nicht. Die Frau kam auf sie zu, hinter hier ein Schwarm schwarzer Vögel. Das Krächzen wurde lauter, bis es jedes andere Geräusch übertönte. Und dann riefen sie nach Inga.
„Komm … Komm zu uns. Gib es zurück. Es gehört nicht dir. Du kannst nicht entkommen, Inga.“
Inga schrie. Vor der Tür wurde ein Stuhl verschoben. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Ihre Mutter stürmte mit besorgtem Blick herein. Inga weinte.
„Ich will nicht, dass sie mich holen, Mama“, schluchzte sie.
„Oh, meine kleine Strandrose. Niemand wird dich holen. Wir passen auf dich auf“, sagte ihre Mutter und nahm sie in den Arm. Die Worte beruhigten Inga etwas, als sie jedoch Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen, ließ Inga sie nicht gehen.
„Bleib bei mir, Mama. Bitte. Geh nicht weg.“
Ihre Mutter schenkte ihr ein Lächeln, strich behutsam über Ingas Kopf und nickte.
„Okay.“
So schlief Inga in dieser Nacht doch ein. Die Stimme blieb stumm, solange sie nicht alleine war, und so kamen ihre wild sprießenden Gedanken fürs erste zur Ruhe.
Am nächsten Morgen besuchte sie Doktor Steenberg, der Dorfarzt und außerdem ein Mann in Polizeiuniform. Während der Doktor sie untersuchte, stellte der Polizist jede Menge Fragen. Er war ein Commissaris und versuchte herauszufinden, wer hinter dem Tod der anderen Kinder in Westenschouwen steckte.
Der Mann war groß, breitschultrig und hatte ein unfreundlich ernstes Gesicht. Allein sein Auftreten hatte Inga eingeschüchtert, als er in ihr Zimmer gestiefelt war. Als er dann das Wort an sie gerichtet hatte, hätte sie sich am liebsten unter dem Bett versteckt. Seine Fragen stellte er knurrend und ungeduldig. Und er schüttelte regelmäßig den Kopf, während er sich in einem Notizbüchlein Ingas gestammelten Antwortsatzfetzen notierte.
Auf Steenbergs mitfühlenden Einwand: „Setzen sie das Kind nicht so unter Druck. Inga hat gestern sehr traumatische Stunden durchlitten“, erwiderte er kühl: „Im Gegensatz zu den anderen lebt sie. Was ein wahres Glück wäre, wenn man aus ihrem Gestammel irgendetwas Sinnvolles entnehmen könnte. Irgendwie scheint das Kind verrückt zu sein oder sich eine Geschichte zusammenzufantasieren.“
„Meine Tochter ist nicht verrückt“, zischte Ingas Vater. Der Polizist drehte sich zu ihm um, während Doktor Steenberg die Kratzer und Schnittverletzungen auf Ingas Armen unter die Lupe nahm.
„So“, sagte er, „dann haben sie wohl auch eine Frau ohne Hände aus dem Meer steigen sehen, was?“
„Nein, aber …“
„Danke. Ich habe genug gehört. Das hier ist reine Zeitverschwendung. Wenn sic h die Göre beruhigt hat und etwas erzählt, das der Wahrheit entsprechen könnte, lassen Sie es mich wissen. Da draußen läuft immer noch ein Kindermörder frei rum, Herr Heemstedde, vergessen Sie das nicht.“
Mit diesen Worten schob er sich an Ingas Vater vorbei und verließ das Zimmer.
Die folgenden Tage quälten sich dahin. Die Sonne ging auf und unter. Ingas Eltern versuchten einige Male , mit ihr zu reden und begannen nach den Einzelheiten zu fragen. Ihre Mutter brach dabei immer häufiger in Tränen aus. Und Inga, obwohl noch Kind, verstand schnell, dass sie
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