Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
im Stich lassen und sie in die Hände von diesen Quacksalbern geben, werden wir sie vielleicht für immer verlieren.“
Innerlich atmete Inga auf, gleichwohl sie sich fragte, was ihr Vater wohl tun wollte, um ihr zu helfen.
Es folgte eine lange Erklärung, der sie nur schwer folgen konnte. Sie war wirr und sprang von einem Ereignis auf das andere, nahm Bezug auf das Grauen, das derzeit im Dorf herrschte , und ging nahtlos in einen Bericht längst vergangener Geschehnisse über. Es ging um die Sandbank vor der Küste und um etwas Böses, das von dort ausging. Ihr Vater sprach von einem mehr als 200 Jahre zurückliegenden Ereignis, von Folter und einer Frau, die man dort ertränkt hatte. Zuletzt erwähnte er eine seltsame Kiste, die man verschließen müsse, um den Fluch, der die Kinder von Westenschouwen nach und nach holen kam, dahin zurückzuschicken, wo er hergekommen war.
Einen Reim darauf konnte sich Inga nicht machen. Als sie genug gehört hatte und lautlos bis zu ihrer Zimmertür gekrochen war, wusste sie nur, dass – so unglaublich es klingen mochte – ihr Vater die Sache sehr er nst nahm. Und er war nicht der Einzige. Die Stimme hatte scheinbar auch sehr genau zugehört und als Inga endlich in ihrem Zimmer saß, sprach sie eindringlich zu ihr.
„Du weißt, das darfst du nicht zulassen“, sagte sie. Inga erwiderte nichts. Das erzürnte die Stimme.
„Halte ihn auf, Kind. Es wird dir schlecht ergehen, wenn du es nicht tust. Halte ihn auf! Du gehörst mir! Tu , was ich dir sage!“
Ohne Erfolg. Inga antwortete ihr nicht. Sie lag in ihrem Bett und summte leise vor sich hin, bis ihr vor Erschöpfu ng die Augen zufielen und sie einem unruhigen Schlaf entgegentrieb. Selbst in ihren Träumen versuchte die Frau aus dem Wasser sie zu erreichen. Ingas Unterbewusstsein entzog sich ihrem Einfluss, indem es in Traumsequenzen sprang, in denen es keinen Platz für vermoderte Wasserleichen und wahnsinnige Möwen gab.
***
Eine weitere Woche musste sich Inga mit dem Martyrium herumschlagen, dann kam der Tag, an dem Pat Heemstedde sie bei der Hand nahm, sie kurzerhand in ein Ruderboot setzte und mit ihr zusammen hinaus aufs Meer fuhr. Er erklärte ihr, dass sie ganz tapfer sein müsse, egal was passieren würde. Sie versprach es ihm und er nickte zufrieden, während er das Paddel abwechselnd links und rechts ins Wasser stach.
Je näher sie der Sandbank kam, desto lauter schr ie die Stimme in Ingas Kopf. Selbst als ihr Vater die Kiste gefunden hatte, von der er Nächte zuvor gesprochen hatte, hörte die Stimme nicht auf.
Erst als Pat Heemstedde mit einem stabilen Schloss dafür sorgte, dass die Kiste verschlossen wurde, schrie die Stimme ein letztes Mal in ihrem Kopf. Es war ein lang gezogener, schrecklicher Laut, der sie das Bewusstsein verlieren ließ.
Was danach passierte , bekam sie nur bruchstückhaft mit. Der Himmel verdunkelte sich. Ihr Vater stürmte auf sie zu, hob sie hoch. Es regnete, blitzte und donnerte. Sie lag im Boot. Der Vater paddelte, schlug nach herabstürzenden schwarzen Vögeln und schrie: „Ihr bekommt sie nicht!“
Das Nächste, an das sich Inga erinnerte , war, dass sie über den Strand zum Haus ihrer Eltern getragen wurde.
„Alles ist gut, meine kleine Prinzessin“, redete ihr Vater auf sie ein. „Alles ist gut.“
Er brachte sie in ihr Zimmer, legte eine Decke um sie und verlangte von ihr, auf dem Bett sitzen zu bleiben.
„Ich suche etwas Verba ndszeug, mein Engel. Ganz ruhig. Das kriegen wir schon wieder hin.“
Dann verschwand er. Sie hörte ihn nach ihrer Mutter rufen und schaute gleichzeitig an sich herab. Als sie den roten Fleck auf dem linken Ärmel ihres Pullovers entdeckte, schreckte sie zurück. Als sie sah, dass ihre Hand blutig und von tiefen Einkerbungen durchschnitten war , wurde ihr übel. Sie wollte weinen, konnte es aber nicht. Sie hätte Schmerzen haben müssen. Sie hatte keine. Es war einfaches blankes Entsetzen, das sie beim Anblick der blutenden Finger ergriffen hatte. Sie wollte das nicht sehen, konnte nicht länger hinschauen. Trotzdem bereitete es ihr Mühe, den Blick loszureißen. Als sie es endlich doch vollbrachte, schloss sie die Augen und hielt sie geschlossen, bis sie das Trampeln von Schritten und die Stimmen ihres Vaters in ihrem Zimmer vernahm.
„So mein Engel, gleich ist alles gut. Alles ist …“, sagte er und stockte. Inga öffnete die Lieder und schaute ihn ängstlich an. Der Blick ihres Vaters offenbarte Unbehagen. „Wa … Wa …
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