Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
schnell wieder sein.
„Ich hatte Petrs Sachen zusammen. Ich hätte mein Leben zurückhaben können, wenn …“
„Falsch“, widersprach die Stimme. „Erstens: Du hattest alles, abgesehen von diesem ominösen Schloss, um das Ari so viel Wind machte. Zweitens: Wolltest du dein kümmerliches, altes Leben wirklich wiederhaben?“
„Was ist das denn für eine bescheuerte Frage? Guck dir an, was sie mit meinem Haus gemacht haben. Wie soll es denn jetzt weitergehen? Herrje! Ich habe nichts mehr. Nichts!“
„Mir kommen gleich die Tränen. Na ja, du bist eben ein Versager“, höhnte die Stimme. „Sieh es mal von der positiven Seite …“
„Positiv? Was soll denn daran positiv sein?“ , knurrte Harry.
„ Tja, vorher hattest du auch nicht viel mehr. Verloren hast du also kaum etwas. Allerdings denkt Viktor jetzt, du seist tot. Jeder in Rotterdam wird bald glauben, er hätte dich in deinen eigenen vier Wänden verbrennen lassen. Du bist frei, nur weigerst du dich, das endlich zu kapieren. Das hier ist dein erster Schritt in ein neues Leben.“
„Ach …“
„Nicht „Ach“ … So ist es. Du musst die Chancen, die sich ergeben, nur endlich mal ergreifen.“
Harry seufzte. Er hatte genug gehört und er war gar nicht in der Stimmung, einen Vortrag über verpasste Gelegenheiten über sich ergehen zu lassen, zumal es ein Vortrag war, den er sich im engeren Sinne gerade selbst hielt.
„Schön und gut. Und wie soll es dann jetzt weitergehen in meinem tollen neuen Leben?“
„Verschwinde!“, zischte die Stimme. „So schnell es geht. Verschwinde von hier.“
„Wieso …?“
„Frag nicht. Tu es einfach.“
Harry schaute sich um. Er wurde weiterhin nicht beachtet. Der Krankenwagen war noch immer nicht eingetroffen, dafür fuhr in diesem Moment ein Polizeifahrzeug vor. Es hielt bei der Gruppe von Feuerwehrmännern, die sich die Reste von Harrys Haus ansahen und nach möglichen vergessenen Brandherden suchten. Beim Anblick der rotierenden Blaulichter kam Harry fast von alleine auf die Beine. Die Stimme hatte recht. So sehr er in diesem Moment Opfer war, gleichzeitig war er ein Kleinkrimineller. In Rotterdam gab es eine Akte über ihn. Natürlich stand nichts Gravierendes darin, gleichwohl genug, um ihn gegebenenfalls in Schwierigkeiten zu bringen. Und die würde er bekommen. Wenn wirklich drei Menschen tot aufgefunden worden waren und er nur mit viel Glück aus seinem völlig ausgebrannten Haus geborgen worden war, konnte man daraus durchaus die fatalsten, falschen Schlüsse ziehen.
Harry streifte die Decke ab, erhob sich und setzte sich in Bewegung. Das Gefühl, mehrmals von einer Dampfwalze überrollt worden zu sein, kannte er mittlerweile zu genüge. Es begleitete ihn schon viel zu lange, fand er und war gleichzeitig machtlos, etwas daran zu ändern. Er ging gewissermaßen schon seit Tagen auf dem Zahnfleisch. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sein Zahnfleisch recht robust und zäh war. Das war gut. Zumindest bewahrte es ihn davor, auf der Stelle zusammenzuklappen.
Sich mit einer Hand am Löschfahrzeug abstützend schleppte er sich davon. Schritt für Schritt.
Am Heck des Feuerwehr autos fand er ein langes rundes Stück Holz. Es lag einfach auf dem Boden und war von einem der Feuerwehrautos beim Darüberfahren tief in den Sand gedrückt worden. Harry erkannte es sofort. Es war eines der beiden Hölzer, die das Schild über der Eingangstür (mehr schlecht als recht) zusammengehalten hatten. Er hob es auf, stützte sich so gut es ging darauf und setzte seinen Weg fort.
Harry verschwand geradewegs im Nebel, kämpfte sich über den Damm und dann zum Strand hinunter. In der Ferne hörte er eine Sirene. Das war sicher der Krankenwagen oder die Polizei, die sein Verschwinden bemerkt hatte. Die Sanitäter würden jetzt nichts mehr zum Behandeln haben und die Fragen des Commissaris konnte jemand anderes beantwortet. Wer?
Tja, das war nicht Harrys Problem.
Sein Problem war, dass er entscheiden musste, was er als Nächstes tat. Die Versuchung unterzutauchen war groß und naheliegend. Das Problem war nur, er hatte keine Papiere. Sein Portemonnaie lag, sofern er es bei seinem Ausflug ins Möwennest nicht im Meer verloren hatte, ganz sicher im Krankenhaus von Zierikzee oder zwischen den verkohlten Balken seines zerstörten Zuhauses. Dorthin konnte er nicht ohne Weiteres zurückkehren, zumal er keinen Cent in der Tasche hatte. Die übrigen Optionen waren rar. Eigentlich gab es sogar nur eine. Er
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